„Das ist jetzt dran“

Beliebt im Norden, geachtet vom politischen Gegner, aber suspekt in den eigenen Reihen — der Realpolitiker Jochen Gauck/ Er wurde gestern von der Volkskammer zum Chef der Stasi-Auflösungsbehörde gewählt  ■ Von Petra Bornhöft

Keine Sekunde kann Jochen Gauck still sitzen, zappelt mit den Beinen, ballt die Fäuste, wirft im nächsten Moment die Arme in die Luft. In seiner Stimme, die im Fernsehen und in der Volkskammer meist weich, nicht selten einschläfernd klingt, schwingt plötzlich eine leicht verbiesterte Leidenschaft mit: „Ich kann es Bärbel Bohley und ihren Leuten nicht erlauben, sich als Gralshüter unserer Ziele aufzuspielen, die meinen, wir könnten nichts durchsetzen.“ Die Erinnerung an das Vordringen der BesetzerInnen aus der Stasi-Zentrale in die Volkskammer ergrimmt Jochen Gauck noch vier Tage danach. Vor seinen Freunden und Mitstreitern aus dem Neuen Forum Rostock schnaubt der Abgeordnete: „Keine Gruppe hat das Recht, die Regeln des Parlaments außer Kraft zu setzen.“ Ist das nicht etwas starker Tobak für den „Revolutionspfarrer“, der auch künftig seine politische Heimat in der Bürgerbewegung sieht?

Seine Freunde in den Sesseln der früheren SED-Villa, die ihren Wahlkreisabgeordneten nach Wochen zum ersten Mal wieder herzlich in die Arme schließen, bleiben ruhig. Nur einer fragt zögernd: „Hast du den Auftritt als persönliche Kritik deiner Arbeit begriffen? So verbissen sollte man das doch nicht sehen.“ Lachend erwidert Gauck: „Ich komm nun mal aus dem Norden und nicht aus Berlin, und ich mag keine Besetzungen und Blockaden.“ Er bewahrt den kecken Blick, doch kaum merklich richtet er sich auf, sitzt ungewöhnlich gerade und so steif wie beim Fernsehinterview: „Ich bin kein Alternativer. Bärbel Bohley und ihre Leute müssen begreifen, daß es auch andere Politikansätze in der Bürgerbewegung gibt. Den Konflikt will ich. Das ist jetzt dran.“

Knappe Sätze, die treffend die Haltung des 50jährigen gebürtigen Rostockers und Vaters von vier Kindern beschreiben. Die Vorstellung, als Sonderbeauftragter der Bundesregierung und Chef der großen Stasi- Akten-Behörde nach Berlin umziehen zu müssen, findet der leidenschaftlich norddeutsche Kleinstädter „grauenvoll“. Eigentlich wollte er nie weg von Rostock. Aber wahrscheinlich „ist das jetzt dran“, so wie im vergangenen Jahr der Einstieg in die Politik „dran war“.

Politisches Denken, „das intensive Hingucken und Suchen nach Wahrheit“, beginnt früh. Als Elfjähriger erlebt Gauck, wie sein Vater 1951 nach Sibirien verschleppt wird. Davon erzählt er kurz und ohne eine Spur Verbitterung, als sei die Wunde vernarbt. Rasch wechselt er zu den nächsten Abschnitten der Biografie, der intensiven „Teilhabe an echten Lebens- und Leidensprozessen“ als Pfarrer, der sich besonders in der Jugendarbeit engagiert.

In der kirchlichen Arbeit entwickelt Gauck einen Grundsatz, der seine Maxime bleibt; er sucht den „Kompromiß, den ich für eine mögliche und manchmal die einzige Entwicklungsform der Demokratie halte“. Dabei setzt er sich durchaus in Gegensatz zur offiziellen, staatstragenden DDR-Kirche — aber er forscht nach dem „politisch Machbaren“, will diskret den Erfolg und nicht polternd das Scheitern organisieren. „1988 war eine Demonstration beim Kirchentag noch nicht möglich, aber wir konnten nonkonforme Leute einladen und Themen durchsetzen.“ Das, was ihn am meisten an seinen Landsleuten stört — damals wie heute — ist das „Lebensprinzip der Anpassung. Dagegen habe ich wohl am heftigsten gekämpft.“ Das klingt pathetisch, doch seine alten Freunde aus der Gemeinde bestätigen es.

Den Titel „Revolutionspfarrer“ haben andere gewählt. Gauck selber erinnert sich nur daran, wie Gemeindehelferin Dietlind Glüer während des Gottesdienstes für die Leipziger Inhaftierten im September vergangenen Jahres zu ihm gekommen ist und gesagt hat: „Jochen, jetzt müssen wir auf die Straße. Es muß etwas gesagt, eine Richtung benannt werden. Das mußt Du machen.“ Da war sie dran, die Demonstration zum Stasi-Gebäude. Ein gutes Jahr später, beim Treffen mit dem Volkskammer-Abgeordneten Gauck, lacht Dietlind Glüer den Mitstreiter an: „Jochen, sei nicht so stur, ich fand es herrlich, daß die Volkskammer von den Besetzern mal 'n bißchen durcheinander gepustet wurde.“ Er ist ein bißchen stur, wie fast jeder Norddeutsche.

Hatnäckiger Realo

Manche nennen das beharrlich. Reichlich hartnäckig jedenfalls ficht Gauck bereits im Januar auf der ersten Landesdelegiertenkonferenz des Neuen Forums gegen den Traum vom Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus und die Abneigung gegen die deutsche Einheit. Ist es sein Sinn für's Machbare oder die ihm seither von linken Kritikern unterstellte „Affinität zur Sozialdemokratie“, die den Rostocker in den südlicheren Breitengraden des Neuen Forums seither suspekt erscheinen läßt? Gauck macht keinen Hehl daraus, daß ihm „der nichtrevolutionäre Politikansatz der SPD sympathisch ist“. Aber im nächsten Moment wischt er sich über die Stirn und grinst, „eigentlich kenne ich die SPD gar nicht, habe nur ihren engen Handlungsrahmen erlebt, und die Grünen haben ja insgesamt doch einen erheblichen politischen Zugewinn gebracht“. Trotzdem bleibt er dabei: „Das Alternative, das Leiden, die ewige Verkündung, es sei nichts mehr zu machen — all das kann ich nicht ab.“ Punktum.

Dächte er anders, hätte er sich nicht für die Volkskammer aufstellen lassen. Verantwortung in der Politik „war dran“. Aus der Schar der über 400 Abgeordneten ragt er seit wenigen Wochen weit heraus. Voll des Lobes sind seine Mitarbeiter und Kollegen im Ausschuß. Von CDU bis PDS schätzen sie die „Integrationsfähigkeit“, „Solidität“, „Standfestigkeit“, „Dialogfähigkeit“. Nur bei krampfhaftem Nachdenken fällt einem Parlamentarier eine Schwäche ein: „Gauck trinkt nicht so gern Bier.“

Doch die öffentliche Sanftmut gegenüber Innenminister Diestel, der sich der Aufklärungsarbeit in Sachen Stasi heftig und lautstark widersetzte, — ging das nicht zu weit? Überschätzt er nicht die Wirkung der leisen und stets dosierten Zwischentöne? Gauck knetet die kräftigen Hände, überlegt, zögert mit der Antwort. „Vielleicht bin ich ein Ideechen zu gutgläubig für die Politik“, weicht er aus, wohlwissend, daß er „in der Öffentlichkeit jede spontane Empfindung domestiziert“ und deshalb manchmal ebenso abweisend und leblos wie ein alter Hase aus dem Bundestag wirkt. Trotz der Niederlage in der Volkskammer habe sich die Arbeit gelohnt, und „ich werde jetzt an dem Stück, wo wir mal angefangen haben, weiter arbeiten. Ob er Angst vor dem neuen Amt habe, dem Drahtseilakt zwischen Bonner Begehrlichkeiten, verbogenen Ost- und abgezockten West-Bürokraten und der Bürgerbewegung? Er zieht den Kragen hoch, hebt den Kopf und zitiert Brecht: „Es regnet von oben nach unten.“ Man muß nur genau hinschauen. „Doch. Aber das ist jetzt dran.“