Wie rette ich einen Minister?

Trotz heftiger Kritik an seiner Amtsführung und Verwicklung in Widersprüche bleibt Innenminister Diestel im Amt/ Chaos in der Volkskammer/ Mehrheit der ParlamentarierInnen bewies Solidarität / PDS schwieg/ CDU in Treue zum Spitzenkandidaten  ■ Von Petra Bornhöft

Berlin (taz) — Die einen gönnen sich lachend Sekt. Die anderen brauchen einen Cognac, sitzen bleich und gelähmt in den Ledersesseln vor dem Parlamentssaal — als hätten sie soeben erfahren, die deutsche Einheit sei abgesagt worden. Tatsächlich hat Volkskammervizepräsident Höppner, fünf Minuten vor null Uhr, mit tonloser Stimme ein Abstimmungsergebnis verlesen. Nur 107 von 309 anwesenden Abgeordneten haben anonym einen Zettel mit einem „Ja“ für die beantragte Abberufung von Innenminister Diestel in die gläsernen Urnen geworfen. Und das, nachdem eine offene „Probeabstimmung“ eine Mehrheit für seine Gegner ergeben hat. Zwischen den beiden Voten hatten die Fraktionäre zwischen Soljanka und Dixieland- Musik ein derartiges Chaos produziert, daß der Minister gerettet wurde.

Gewöhnlich nutzt Diestel Volkskammersitzungen, um unter ihm geneigten Journalisten zu flanieren. Aber es ist keine gewöhnliche Sitzung. Zwar verstummt die Kritik an seiner Amtsführung seit Monaten nicht. Doch drei Wochen vor der Einheit, dem Tag, an dem auch die begehrlichen westdeutschen Behörden ihren Zugriff zu den Stasi-Akten vielleicht nicht rechtlich, aber wohl technisch gesichert haben werden, und wenige Tage nach der OibE-Enttarnung in den Ministerien, geben selbst die bislang äußerst öffentlichkeitsscheuen, parlamentarischen Stasi-Auflöser ihre Scheu auf. Mit den Worten „Das Faß kommt zum Überlaufen“ begründet Hanns-Dieter Meisel (Bündnis 90/Grüne) den Antrag von 24 Abgeordneten aus allen Fraktionen mit Ausnahme der PDS, Diestel zu entlassen. Jens Möller (SPD) konkretisiert: „Das dem Minister unterstehende Staatliche Komitee zur Auflösung der Stasi war berechtigt und verpflichtet, alle hauptamtlichen Mitarbeiter zu entlassen, doch sie durften mit Diestels Duldung weiterarbeiten.“ Diestel antwortet mit einem vorbereiteten Statement, dessen Widersprüche den für seine überlegte Zurückhaltung bekannten Jochen Gauck (Bündnis90/Grüne) sichtlich in Rage versetzt. Als Vorsitzender des Volkskammerausschusses zur Auflösung der Stasi ergreift er das Wort. Atemlose Stille im Saal, als Gauck zu bedenken gibt: „Nach einhelliger Meinung aller Kollegen, die auf der Stasi-Strecke arbeiten, hat Herr Diestel seine Qualifikation nicht beweisen können.“ Das beträfe die Übernahme der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter und seine „heutigen Darlegungen“. „Er sagte, der Ministerratsbeschluß erlaubte ihm keinen Zugriff auf die Akten. Gleichzeitig hat er aber eine Liste vorbereiten lassen. Überlegen Sie genau, meine Damen und Herren, es kann nur eine Version stimmen.“ Mehrmals habe Diestel dem Ausschuß vorgehalten, „wir würden die Aufgaben der Exekutive übernehmen, und Sie sprachen uns die Berechtigung zu Recherchen ab“. Auch de Maizière, der sich wie ein Tiger vor seine Minister wirft, greift Gauck an. Dem Ministerpräsidenten könne doch nicht entgangen sein, daß der Ausschuß sich via Parlamentspräsidium gegen Diestel „den Handlungsspielraum hat erkämpfen müssen“.

De Maizière hat eine Karte gezogen, die das Hohe Haus in Verwirrung stürzt. Laut Verfassung könne das Parlament den Minister abberufen — „Warum werden Maßnahmen von mir gefordert?“ Wer kann denn nun einen Minister absetzen? Waren die Antragsteller nicht fähig, die Verfassung zu lesen? Waren sie nicht. De Maizière hat die Verfassung, in der dieser Fall nicht vorgesehen ist, nach seinem Gusto interpretiert. Gleichwohl soll der Antrag geändert werden, nicht mehr der Ministerpräsident um Diestels Entlassung gebeten, sondern dessen Abberufung direkt von der Volkskammer beschlossen werden.

Mittlerweile hat die CDU Panik ergriffen, denn die offene Abstimmung über den Änderungsantrag ergibt faktisch 183 Stimmen gegen Diestel, 86 für ihn und 40 Enthaltungen. Ein CDUler verlangt Überweisung des Antrages an den Rechtsausschuß. Die DSU fordert Ausschluß der Öffentlichkeit. Lautstark protestieren Zuschauer: „Wir wollen teilnehmen. Wir sind das Volk.“ CDUler pöbeln, stehenden Fußes zieht die DSU ihren Antrag zurück. Gejohle. Nun beharren die Konservativen auf Einberufung des Geschäftsordnungsausschusses. Er soll klären, ob Diestel mit einfacher oder absoluter Mehrheit abgesägt werden kann. Knapp drei Stunden währt inzwischen das absurde Theater um den Tagesordnungspunkt 6a. Zwar enthält auch die Geschäftsordnung keine Regelung, aber ihre Ausschußhüter entscheiden sich für die absolute Mehrheit und geheime Abstimmung.

Die kann nach diversen Sitzungsunterbrechungen auch erst im zweiten Anlauf ordnungsgemäß durchgeführt werden. Ihr Ergebnis — die Zahl der Diestel-Gegner hat sich von 183 auf 107 vermindert — löst Tumulte auf der Zuschauertribüne aus. Beim Versuch, zwei Transparente zu entrollen, werden etwa zehn Personen von herbeigehechteten „Objektschützern“ weggezerrt. Im Saal knallt eine Tür. Punkt null Uhr grinst Diestel und flunkert in seiner Dankesrede: „Ich hatte mehrere Stunden das Gefühl, wie groß der Saal und wie klein man ist, wenn man allein ist. Aber ich habe das Gefühl der Solidarität in diesem Haus empfunden.“

Auffallend teilnahmslos hatte die PDS während der gesamten Debatte geschwiegen. „Diestel gilt bei vielen als loyaler Minister“, räumt ein Genosse ein. Gysi gibt sich zerknirscht, schweigt aber. Auch in der SPD vermutet man „schwarze Schafe“, die auf den Spitzenkandidaten in Brandenburg als Gegner nicht verzichten wollen. Die Schwierigkeit, mitten im Wahlkampf einen anderen als den bei den Christdemokraten nicht sonderlich beliebten Diestel zu nominieren, dürfte viele Konservative doch wieder auf seine Seite gedrängt haben.