„Ausgelutschter Neoliberalismus“

■ Zu Jörg Meyer-Stahmers Thesen über die neue brasilianische Industriepolitik

DOKUMENTATION

Von Gaby Weber

Nach dem 'Handelsblatt‘ durfte nun auch in der taz (vom 7.8.) der Neoliberalismus seinen publizistischen Siegeszug antreten. Da feiert ein Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) - das „zufällig“ von der Bundesregierung finanziert wird - die Segnungen des „Referenzrahmens Weltmarkt“ und des „modernen Wettbewerbskapitalismus“. Am Beispiel des neuen (rechten) brasilianischen Präsidenten Collor de Mello werden die alten Rezepte aus der neoliberalen Mottenkiste herausgeholt Rezepte, an die sich die entwickelten Industriestaaten keineswegs selbst halten, sondern die sie nur den Volkswirtschaften der Entwicklungsländer verordnen.

Um es noch deutlicher zu sagen: Japan betreibt wohl den aggressivsten Protektionismus des Planeten, und die japanische Wirtschaft liegt keineswegs am Boden; die Landwirtschaft der Europäischen Gemeinschaft trägt mit ihren Subventionen und Quotenregelungen eher den Charakter einer sozialistischen Planwirtschaft als den des gerühmten Wettbewerbskapitalismus, und die EG steht offensichtlich mit diesem Vorgehen nicht am Rande des Zusammenbruchs. Selbst die USA schützen mit rigiden Importverboten und hohen Schutzzöllen ihre eigenen Produzenten, obwohl sie gegenüber den Ländern der südlichen Halbkugel stets vehement das Hohelied des freien Wettbewerbs anstimmen.

Wenn jetzt Collor de Mello Brasilien der Konkurrenz des Weltmarktes aussetzt, so geschieht dies zunächst, was der DIE-Autor verschweigt, auf massiven Druck der US-Regierung, die für ihre Produkte neue Absatzmärkte sucht. Ohne die Drohgebärden von Carla Hills, der US-Vertreterin im GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), wären die neuen neoliberalen Maßnahmen der Collor-Regierung nicht erfolgt, wurde in Brasilia offenherzig begründet.

Hilfreich ist ein Blick in die Nachbarländer, die seit über zehn Jahren neoliberale Politik betreiben. Was dem DIE-Autor an dem neuen brasilianischen Präsidenten so gefällt - dessen im Wahlkampf propagierte Parteinahme für den Konsumenten gegen den Produzenten - ist doch ein alter Taschenspielertrick. Bereits Ende der siebziger Jahre hatte sich wie jetzt Collor de Mello Pinochet zum „Verteidiger der Konsumenten“ erklärt und aus Chile ein Experimentierfeld für die Neoliberalen gemacht. Es entstand das „chilenische Wirtschaftswunder“, basierend auf der exportorientierten Landwirtschaft.

Gleichzeitig ging die Industrieproduktion zurück. Nur die kleine Oberschicht profitierte von diesem Modell, denn der überwiegenden Mehrheit der chilenischen Konsumenten fehlt schlicht das Geld, um die reichhaltige Angebotspalette in Anspruch zu nehmen. Laut der offiziellen Statistik leben sechs Millionen Chilenen in „extremer Armut“, wie es im Soziologenjargon heißt. In Argentinien, dem derzeitigen Lieblingskind der Neoliberalen, regelt alles der Markt, die peronistische Regierung verzichtet auf eine eigenständige Industriepolitik, etwa mit Hilfe von Subventionen oder Steuererleichterungen. Doch der Markt hat den Argentiniern riesige Arbeitslosigkeit (einen „Arbeitsmarkt“) und Preise beschert, die von den Monopolen willkürlich gebildet werden und nichts mehr mit den Produktionskosten zu tun haben. Der Finanzmarkt ist dafür verantwortlich, daß kaum noch in der Produktion investiert wird und die argentinische Industrie heute vollkommen veraltert ist; sie ist derzeit nur noch zu 40% ausgelastet, und dabei wird es wohl vorerst bleiben.

Statt den ausgelutschten Schlachtruf des „modernen Wettbewerbskapitalismus“ zu benutzen, wäre es sinnvoll zu überlegen, weshalb die Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung an ihre Grenzen gestoßen ist. Liegt das am veränderten internationalen Kräfteverhältnis zwischen Nord und Süd? Welche Rolle spielte dabei die Subventionspolitik der Industriestaaten? Welche Fehler begingen die Regierungen der Ländern des abhängigen Kapitalismus?

Sinnvoll wären auch Überlegungen der lateinamerikanischen Linken gewesen, die vor kurzem auf dem Kongreß in Sao Paulo den US-Vorschlag nach einem gemeinsamen amerikanischen Wirtschaftsraum (unter Führung Washingtons versteht sich) ausdrücklich abgelehnt und als Alternative dagegen eine lateinamerikanische Gemeinschaft gestellt hatten.

Die Autorin lebt als Journalistin in Montevideo, Uruguay.