Ökologische Rollenspiele

■ Zum anachronistischen Festhalten der Umweltbewegung an liebgewonnenen Feindbildern

DOKUMENTATION

Zuletzt fiel es während der Nordsee-Schutzkonferenz auf: Dort wurde mit großer Ausdauer über Bereiche diskutiert, obwohl die Schlacht eigentlich längst geschlagen ist. So wird unter anderem immer noch der Popanz des Rheins als dem größten offenen Abwasserkanal Europas hochgehalten. Daß in der Umweltdebatte (auch auf seiten der Umweltverbände!) offenbar jegliches Gefühl für Größenordnungen verlorengegangen ist, läßt sich gerade am Rhein überdeutlich aufzeigen. Im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren geht es am deutschen Schicksalsstrom inzwischen nur noch um 10 bis 20 Prozent jener Schadstofffracht, die sich zum Höhepunkt der Rhein-Verschmutzung Richtung Nordsee wälzte. Die letzten 10 bis 20 Prozent der Rhein-Schadstoffe sind aufgrund des hohen Anteils von Substanzen, die in industriellen und kommunalen Kläranlagen nicht abgebaut werden, zwar besonders „gehaltvoll“ - aber es besteht kein Grund zur Annahme, daß eine weitere Halbierung dieser Schadstofffracht bis 1995 nicht gelingen sollte.

Wie eine jüngst veröffentliche Studie des der Umweltbewegung nahestehenden International Centre of Water Studies (ICWS) mit dem Titel „Pollution of the North Sea imposed by West European rivers (1984-87)“ gezeigt hat, ist der Rhein bereits jetzt - bezogen auf die Schadstoffkonzentration (nicht -frachten!) - der sauberste von zehn Nordseezuflüssen. Aufgrund der hohen Wasserführung des Rheins sind die Frachten allerdings, insbesondere bei den Nährstoffen, immer noch beträchtlich.

Der Rhein ist bereits jetzt der sauberste von zehn Nordseezuflüssen

Das von den Medien und der Umweltbewegung vielfach kolportierte Bild der Vergiftung des Rheins durch die Chemiebranche stimmt nur noch sehr begrenzt. Erst jüngst hat Andreas Ahrens vom Hamburger Ökopol-Institut in der 'Waterkant‘ 1/90 darauf hingewiesen, daß die „klassischen Entlarvungsstrategien„ in der Diskussion mit der chemischen Industrie nicht mehr lange tragfähig seien. Mit immer höheren Wirkungsgraden, immer perfekteren Reinigungstechniken und den zunehmend praktizierten Maßnahmen des „integrierten Umweltschutzes“ (also der Abwasservermeidung) entspricht das auch in der Umweltszene sorgfältig gepflegte Bild von der giftspeienden Chemie -Industrie immer weniger der Wirklichkeit. Aber je geringer die Abwasserbelastung (absolut und pro Produktionseinheit) wird, desto mehr müßte das Umweltgefährdungspotential der Produktion und der Produkte an sich in den Vordergrund des Interesses rücken! Motto: Die größte Emission der Chemie -Industrie sind ihre Produkte. Wobei der alleinige Verweis auf die Chemieprodukte noch viel zu kurz greift. Das Niveau unserer ständig steigenden Konsumtion entpuppt sich mehr und mehr als die wahre Umweltgefahr. Ein paar Kilogramm Quecksilber im Rhein mehr oder weniger sind dem gegenüber völlig bedeutungslos.

Nicht Chemie-Industrie, sondern Konsumption ist die eigentliche Umweltgefahr

Beispiel: Bei der BASF gelangen je Tonne Produkt (einschließlich Zwischenprodukt) noch 1,7 Kilogramm Substanz ins Abwasser. 1.000 Kilogramm werden aber irgendwann auch zu Abfall, Abwasser oder Abgas und belasten dann die Umwelt.

Beispiel: Die produktionsbedingte Pestizidbelastung des Rheins ist in den letzten fünf Jahren um zwei Zehnerpotenzen zurückgegangen. Circa 30.000 Tonnen Pestizide werden aber bestimmungsgemäß großflächig in die Umwelt versprüht und belasten Luft, Wasser und Boden.

Beispiel: Die Stickstoffbelastung der „Vorfluter“ bei der Mineraldüngerproduktion geht ständig zurück. Der sehr viel gravierendere Eintrag von Stickstoffdüngern in der Landwirtschaft bleibt seit Jahren gleich.

Beispiel: Die Abwasserbelastung des Untermains durch die Autoproduktion bei Opel Rüsselsheim war belanglos im Vergleich zu der Stickoxidbelastung der Atmosphäre (und damit auch der Nordsee) durch die Opel-Pkws, die jahrzehntelang ohne Katalysator durch die Landschaft bretterten. Auch nachdem jetzt alle fabrikneuen Opel -Fahrzeuge mit Katalysator ausgestattet sind und mithin signifikant weniger Stickoxide emittieren, bleibt die CO2 -Emission, die von den Kats nicht beseitig werden kann. Der unter anderem durch den Verkehr bedingte Treibhauseffekt wird durch eine Erwärmung des Meereswassers Auswirkungen auf die Nordsee-Ökologie haben, gegenüber der die Abwasserbelastung bei der Pkw-Produktion unbedeutend ist.

Beispiel: Die direkte Gewässerbelastung durch die Produktion der stark toxischen Stoffgruppe der halogenierten Kohlenwasserstoffe ist ein „Klacks“ im Vergleich zur Giftfreisetzung von leichtflüchtigen Organohalogenverbindungen beim bestimmungsgemäßen Gebrauch dieser Stoffe: weit über 90 Prozent dieser leichtflüchtigen Verbindungen verdunsten in die Atmosphäre. Der Anteil dieser Verbindungen an der Waldvernichtung ist bislang nicht genau quantifizierbar, dürfte aber beträchtlich sein. Und die Auswirkungen der Waldvernichtung (genauso wie die des Treibhauseffekts) auf den Grundwasserhaushalt und die Grundwasserqualität dürften die ökologischen Folgen der Gewässerverschmutzung durch Produktionsabwässer aus der CKW -Produktion um Größenordnungen übertreffen.

Über die Entlastungsfunktion

von Feindbildern

Es kann vermutet werden, daß das in unzähligen Karikaturen liebevoll ausgemalte Bild von der giftspeienden (Chemie -)Industrie auch eine Entlastungsfunktion hat: der zunehmend fragwürdigere Verweis auf die Vergiftung des Rheins und der Nordsee durch die Chemiebranche verhindert das Nachdenken über eine Konsumtions- und Produktionsweise, die an sich durch Ressourcenverbrauch, Kohlendioxid-Emission und diffusen Schadstoffeintrag umweltunverträglich ist.

Insofern greift die Kritik der SPD im Bundestag und die Kritik der Umweltverbände an den Ergebnissen der 3. Internationalen Nordsee-Konferenz viel zu kurz. Das tradierte Festhalten am „schmutzigen Rhein“ und an der „wasservergiftenden Chemieindustrie“ verschleiert, daß sich die Hauptursachen für die Schadstoffbelastung der Gewässer zunehmend von der Produktionssphäre in die Konsumtionssphäre verlagern. Die Pflege liebgewordener Feindbilder in der Nordsee-Debatte entspricht einer eindimensionalen und monokausalen Denkweise.

Die in der Öffentlichkeit ohnehin nur rudimentär vorhandenen Ansätze zu einem vernetzten Denken werden durch einen derartigen Debattenstil nicht gerade gefördert. Daß SPD, Grüne und Umweltverbände auf einem derart niedrigen Niveau diskutieren, macht es der interessierten Öffentlichkeit noch schwerer, zu erkennen, wo die wahren Dimensionen der Schadstoffeinträge liegen. Rollenspiele in Schwarz-weiß-Manier, wie sie angesichts der 3. Nordsee -Konferenz wieder weidlich vorexerziert worden sind, gehen zunehmend an der ökologischen Wirklichkeit unserer Gewässer, also auch an der Nordsee, einfach vorbei.

Nik Geiler

Aus dem Informationsdienst 'Chemie und Umwelt‘ Nr. 7/90