Schwermut einer verlorenen Wirklichkeit

■ Psychisch kranke Menschen in der DDR: Über Mißbrauch, Mißstände und gnädigen Gedächtnisschwund

Von Bascha Mika

Das Gitter ist mannshoch. Die Augen, die hindurchstarren, werfen kein Bild zurück, sind nur groß, braun, oval. Der Mund darunter formt ein O. Kleine, an den Kanten zerfressene Zähne werden sichtbar, Speichel näßt im linken Mundwinkel. Der Junge ist vielleicht 15, vielleicht 20 oder älter. In seinem langgezogenen Gesicht, glatte, dunkle Haare obenauf, finden die Jahre keinen rechten Halt.

Die Tür zum vergitterten Garten wird von innen geöffnet. Der Junge streckt die Hände aus, den Besuchern entgegen. Er kommt näher, murmelt etwas. Leicht, wie weiche Federtiere, lassen sich seine Hände auf dem Arm eines Gastes nieder. Sanft hält er ihn fest, läßt sich ein Stück von ihm führen, will die Unbekannte zum Haus begleiten. Eine Pflegerin holt ihn weg.

In Haus 31 der Berliner Zentralklinik für Psychiatrie und Neurologie „Wilhelm Griesinger“ leben Frauen mit schweren geistigen Behinderungen oder Verhaltensstörungen. Haus 32 ist das Pendant für Männer. Garten und Zaun haben Männer und Frauen gemeinsam.

In Küche und Diele von Haus 31 wuseln kleine Mädchen, große Mädchen, ältere Frauen und solche mit undefinierbarem Alter. Dazwischen müht sich weißgekitteltes Personal, drei bis fünf PflegerInnen pro Schicht. Rund 200 Quadratmeter hat das Haus für 33 schwergeschädigte Menschen. „Es ist eng“, sagt Chefarzt Wolfgang Hornoff, „aber die Patienten fühlen sich wohl. Auslauf haben sie im Garten.“ Und zur Körperpflege gibt es ein Bad: zwei Wannen, zwei Waschbecken zwischen beige-braun gekachelten Wänden.

Im Zimmer, das der Chefarzt dann aufschließt, sitzen und stehen acht seiner Pfleglinge zwischen Regalen mit Spielzeug, plastikbezogenen Tischen und Rockmusik aus einem Recorder. Einige blicken auf, kommen neugierig auf die offene Tür zu. „Die Räume sind meistens offen. Bei Dienstbesprechungen zum Beispiel schließen wir sie mal zu. Und im Wachsaal oben gibt es auch immer wieder Patienten, die wir fixieren müssen.“ Der Wachsaal allerdings wird aus dem Besuchsprogramm ausgeschlossen.

Großklinik

Das Haus für die Schwerstgeschädigten ist eines von 20 „Landhäusern“ auf dem Griesinger-Gelände. Alle sind zwei bis dreigeschossig, ihre gelben, doppelt gebrannten Klinker leuchten zwischen den Bäumen des Parks. Bauten und Bäume sind etwa gleich alt, um die 90 Jahre. Die restlichen der rund 1.000 Betten sind in fünf großen Häusern untergebracht, ein Neubau wurde gerade bezogen, von einem weiteren Achtgeschosser steht schon das Skelett.

„Im Griesinger-Krankenhaus gibt es eine teure Medizintechnik und auch die Gebäude sind in gutem Zustand. Dafür aber ist die Versorgung der PatientInnen unzureichend.“ Dies bemängelt Dr.U.Trenckmann vom Westfälischen Fachkrankenhaus für Psychiatrie in Hemer. Mit einem Arbeitskreis aus Parlamentariern und Fachleuten machte er Anfang des Jahres eine Informationsreise durch die Psychiatrien der DDR. Trenckmann kann sich die Kollegenschelte leisten, denn er kennt die Nervenkliniken in beiden deutschen Staaten. In der DDR wurde er als Psychiater ausgebildet, dann bei dem Versuch, die Republik zu verlassen, gefaßt und eingeknastet. Seit 1984 arbeitet er als Neurologe und Psychiater in der BRD.

Daß PatientInnen selbst in der relativ gut ausgestatteten Griesinger-Klinik zu kurz kommen, ist aber nur ein Teil von Trenckmanns Kritik. Die Großkrankenhäuser sind seiner Meinung nach die Wurzel allen Übels der DDR-Psychiatrie. „Die Ärztlichen Direktoren sind weniger daran interessiert, die bedrückenden Zustände der riesigen, überbelegten Krankenhauskomplexe durch komplementäre psychiatrische Betreuungsformen zu verändern. Sie machen lieber aus den alten Großkrankenhäusern neue Großkrankenhäuser.“ Das unterstellt Trenckmann in einem Brief an die DDR-KollegInnen unter anderen dem Chef der Griesinger-Klinik, Prof.Bernd Nickel. Nickel war seit Sommer '87 beratender Arzt für Psychiatrie und Neurologie beim Ministerium für Gesundheitswesen. (Seit Mai dieses Jahres ist die Funktion abgeschafft.)

Mit dem Griesinger leitet Nickel eine der 25 Großkliniken der DDR, in denen mehr als 80 Prozent der 25.000 psychiatrischen Betten stehen. Die Klinik betreut PatientInnen aus fünf Berliner Stadtbezirken, nimmt pro Jahr etwa 4.300 auf.

„Die großen Fachkrankenhäuser können nur so gut sein wie die kommunale Psychiatrie drumherum.“ Schon deshalb, hält Nickel Trenckmann entgegen, seien deren Leiter durchaus an einer gemeindenahen Psychiatrie interessiert. Die Großkrankenhäuser würden dadurch nicht unbedingt überflüssig. (Auch in der BRD existieren sie nach wie vor trotz Psychiatriereform.) Was fehlt, sind psychiatrische Stationen bei Bezirkskrankenhäusern, niedergelassene Nervenärzte, Übergangswohnheime, betreutes Einzelwohnen alles das gibt es in der DDR so gut wie gar nicht.

Versorgungselend

Statt dessen steht in der Regel eine Großklinik mit durchschnittlich 1.000 Betten am Rande eines Wohngebiets von ein paar hunderttausend Menschen. Die Entfernung zum Krankenhaus macht es schwer, die Angehörigen in die Behandlung einzubeziehen. Und viele PatientInnen müssen stationär aufgenommen werden, obwohl für sie ambulante Hilfe auf einer psychiatrischen Station - wenn es sie denn in ihrer Nähe gäbe - durchaus reichen würde.

Die meisten großen Häuser versuchen, das gesamte Spektrum der Nervenheilkunde abzudecken: Neurologie, Akutpsychiatrie, Rehabilitation, Geropsychiatrie, Suchttherapie. Im Griesinger arbeiten daran immerhin 900 Fachleute, davon 60 ÄrztInnen. In einer fast ebenso großen Psychiatrie in der Provinz, dem sächsischen „Schloß Hubertusburg“, gibt es genau sieben NervenärztInnen für 800 Betten - was der durchschnittlichen Versorgung auf dem Land entspricht.

„In einer Mangelgesellschaft wie der DDR sitzen psychisch Kranke im letzten Waggon. Da hocken sie zwar auch in der Bundesrepublik, aber was hüben zweite oder dritte Klasse heißt, verdient in der DDR gar keine Klassenbezeichnung mehr.“ Trenckmann dachte dabei unter anderem an die elenden Pflegebedingungen. Notstand ist hier ein wahrer Euphemismus: in der DDR fehlen 1.200 NervenärztInnen, 600 Psychologen, 6.000-8.000 Pflegekräfte.

Außerdem liegen in vielen Kliniken die Kranken zu Dutzenden in Hallen - Bett an Nachttisch, Bett an Nachttisch, Bett... Der kleine Metallschrank ist ihre ganze Privatsphäre. Ist ein Patient unruhig, niedergeschlagen, aufgeregt, steckt er damit alle anderen an. Das Saalprinzip, der Überwachungspsychiatrie der Jahrhundertwende entsprungen, ist für jede Heilung verheerend. Die fortschrittliche Psychiatrie ist völlig davon abgekommen, richtet sich auf 1 und 2-Bett-Zimmer ein. In der DDR versucht man mühsam, die Bettenzahl auf acht herunterzudrücken.

Schlangengrube

Nickels Krankenhaus ist wie die meisten Berliner Einrichtungen besser dran als die Landpsychiatrien. Aber auch er hat seine „Schlangengrube“ (Nickel) - die Geropsychiatrie des Griesinger ist berüchtigt.

Den Eingang durchweht es dumpf-scharf. Fäkaliengeruch. Die Rohre in Haus 11 sind morsch und ständig verstopft. Eine alte Frau an der Tür; sie hebt kaum den Blick, gibt dann den Weg frei auf einen langen Linoleumflur. Zwei grauhaarige Wesen tapern ihn entlang, umschiffen langsam die kniehohen Tischchen an den Rändern. In der Küche zur rechten waschen mehrere Alte Geschirr. Knochige Hände umklammern dünne Handtücher, Gläser quietschen, endlos wird Porzellan trockengerieben. Hier, in der Geropsychiatrie, kann jeder landen, der über 60 ist, psychiatrisch auffällig wird und vorher noch nicht behandelt wurde. „Depressiv“ lautet dann meistens die Diagnose, oder „Alzheimersche Symptome“, oder schlichter: Altersverwirrtheit. 900 Aufnahmen hat diese Abteilung pro Jahr, 175 Betten insgesamt - und viele PatientInnen, die hier gar nicht hingehören: Weil sie als chronisch Demente pflegepsychiatrisch betreut werden müßten, oder weil ein einfaches Alterspflegeheim genügte. Aber auch Psychotiker, die eine völlig andere Therapie brauchen, steckt man unter Umständen in diese Abteilung, nur weil sie das richtige Alter haben.

„Die Aufnahmepraxis für die Geropsychiatrie ist ziemlich willkürlich“, bestätigt auch Cornelia Schröder, Assistenzärztin am Griesinger. „Oft kommen ältere Menschen, die in einer schwierigen Lebenssituation sind und deshalb in Depression verfallen, in die Geropsychiatrie. Im Grunde sind sie seelisch und körperlich intakt. In die Psychiatrie werden sie abgeschoben, weil sich sonst niemand um sie kümmert. Und dort ist es für sie besonders schwer, denn sie reflektieren alles noch sehr bewußt.“

Lethargie

Der Lebenskrise folgt die Depression, der Depression die Psychiatrie. Ihre depressive Phase können viele Alte vielleicht wieder überwinden, die Mauern der Psychiatrie nicht. Hier verwahrt man sie bis zum Tode, zum Teil unter menschenunwürdigen Zuständen wie im Griesinger. Lethargie und Warten - nichts weckt die Lebensgeister, nichts fördert die Eigeninitiative. Nicht einmal selber duschen können die PatientInnen in Haus 11, weil die sanitären Anlagen fehlen. Die fünf Stationen (eine Aufnahme, vier chronische) sind ständig überbelegt, berichtet die Assistenzärztin. Zehn bis zwölf Betten zwängen sich in die Säle, Nachtschränke, ein runder Tisch, alles auf rund 40 Quadratmetern.

„Ich habe es in meinem Bereitschaftsdienst oft erlebt, daß auf den chronischen Stationen am Wochenende und nachts nur eine Schwester für 70 Leute da war. Und die ist dann natürlich nur mit dem allernötigsten beschäftigt: Essen austeilen und ins Bett bringen.“ An Wochenenden, wenn die Weitervermittlung in andere Kliniken nicht klappt, liegen die Neuaufgenommenen auf dem zugigen Flur. Plastikwände schirmen sie notdürftig ab.

Hier fand sich eines frühen morgens auch Anna Klein (Name von der Redaktion geändert). Sie fror, Arme und Beine waren mit Lederriehmen und Gürteln von Bademänteln gefesselt. Noch am Abend zuvor war die 80jährige friedlich in ihrem Feierabendheim zu Bett gegangen. Oder vielleicht nicht ganz so friedlich. Das jedenfalls behauptet die betreuende Ärztin. Mehrmals geklingelt haben soll Anna Klein, malträtiert habe sie die Wand mit ihrem Krückstock. Noch in derselben Nacht landet die, die den Frieden störte, in der Geropsychiatrie - Einweisungsgesetz hin oder her.

Zwangseinweisung

Denn eigentlich darf nach diesem Gesetz nur jemand zwangsweise in die Psychiatrie überwiesen werden, wenn er sich selbst oder seine Umwelt akut gefährdet. Fünf Prozent aller stationär behandelten psychisch Kranken in der DDR kommen auf diesem Wege in die Klinik (in der Bundesrepublik liegt die Zahl etwas höher). Einweisen kann der Kreisarzt, in akuten Fällen auch der Notarzt. Maximal sechs Wochen dürfen die Betroffenen gegen ihren Willen festgehalten werden, und das auch nur, wenn ein Facharzt die Zwangseinweisung bestätigt.

Doch Gesetz und Praxis sind nicht nur in der DDR zwei paar Schuhe. „Manchmal wird einfach die Gunst der Stunde, das heißt die Nacht genutzt, um schwierige, unliebsame Leute loszuwerden.“ Was mit Anna Klein passiert ist, wundert Cornelia Schröder nicht. „Aus Feierabendheimen kommen des öfteren Patienten bei uns an. Als Einweisungsgrund wird dann meistens angegeben: Patient ist aggressiv, schlägt Mitpatienten und ist gewalttätig gegen das Pflegepersonal. Dabei habe ich erlebt, daß das Menschen waren, die kaum noch aufstehen konnten, geschweige denn die Hand oder den Krückstock erheben.“

Aber einfach wieder nach Hause schicken kann der Bereitschaftsarzt die frisch Eingelieferten nicht. „Viele Kollegen gehen sehr lax mit dem Einweisungsgesetz um. Es ist bekannt, daß der Bereitschaftsarzt im Griesinger die Leute nicht wieder wegschickt, wenn man dieses oder jenes auf den Einweisungsschein schreibt.“ Die Kollegen wissen, daß der Arzt in der Psychiatrie nicht mitten in der Nacht feststellen kann, ob nun wirklich „Suizidgefahr“ bei einem Menschen besteht, den der Notarzt gerade abliefert. Also bleibt der Eingewiesene vorerst da und wird vielleicht am nächsten Tag ohne Papiere von seinen Kindern auf dem Klinikflur gefunden wie Anna Klein.

„Es ist nicht nur einmal passiert, daß alte Leute ohne Voranmeldung und Papiere bei uns eingeliefert wurden,“ räumt auch Klinikchef Nickel ein. „Ich kann das aber auf keinen Fall als Mißbrauch der Psychiatrie ansehen, sondern Mißstände, die wir erst schrittweise ändern können.“

Im Fall Anna Klein aus dem Jahre '86 wurde dieser „Mißstand“ aktenkundig zugegeben. Nach der Psychiatriesierung ihrer Mutter machten die Kinder eine Eingabe an das Ministerium für Gesundheit und das Honecker -Büro. Von dort kam dann die Antwort: Fehleinweisung. Entschuldigung! Nur nützte das Anna Klein nichts mehr. Ihre nächtliche Odyssee überlebte sie nur um kurze Zeit.

Tabu

Flecken auf dem Kittel des „Herrgott in Weiß“ offiziell zu registrieren, ärztlichen Amtsmißbrauch zuzugeben, war im realen Sozialismus immerhin möglich. Der amtlich verordnete graue Star betraf andere Punkte im Grenzbereich zwischen Medizin und Gesellschaft - solche, die nicht nur eine einzelne Kaste, sondern das Menschenbild im Sozialismus beflecken konnten: Alkoholismus und Suizid. Nach dem Motto: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“, existierten diese Phänomene als medizinische, nicht als soziale. Gesellschaftlich waren sie tabu, wurden öffentlich nie diskutiert, negiert, blieben politisch ohne Konsequenzen.

Etwa 5.000 SelbstmörderInnen entleiben sich jährlich in der DDR (in der Bundesrepublik sind es zwischen 11.000 und 12.000 Suizide und Suizidversuche). Der Konsum an reinem Alkohol ist in der DDR zwischen 1970 und '80 von 6 auf 10 Liter pro Kopf gestiegen, rund 3 Prozent der Bevölkerung ist alkoholabhängig, 10-15 Prozent betreiben Alkoholmißbrauch. Doch jede Analyse dieser zerstörerischen Potenzen, die über phänomenologisch-deskriptive Gesichtspunkte hinausging, wurde von staatlichen Stellen be- und verhindert.

Zahlenmaterial wurde nicht herausgegeben, kollegiale Zusammenarbeit untersagt, Veröffentlichungen in Fachblättern abgelehnt. Jede/r WissenschaftlerIn, die/der sich dieser Themen annahm, mußte mit einem Haufen persönlichem Ärger rechnen - um letztlich für die Schublade zu produzieren.

„In einem einfachen Sozialismusverständnis gehört es nicht dazu, daß sich Leute das Leben nehmen oder dem Alkohol verfallen. Diese Probleme zu leugnen, hat was mit Systemerhaltung zu tun.“ So sieht es der beratende Psychiater des Gesundheitsministeriums, Nickel. Zwar hatte der damalige Minister für Gesundheitswesen im August 1989 eine „Richtlinie über Aufgaben des Gesundheits- und Sozialwesens zur Verhütung und Bekämpfung der Alkoholkrankheit“ in Kraft gesetzt. Doch noch nie in den letzten 20 Jahren DDR-Geschichte ist eine Richtlinie unter so problematischen Rahmenbedingungen, mit so geringer Personal- und Kaderdecke bestätigt worden, berichtet Nickel. Und als er auf der letzten Nationalen Gesundheitskonferenz im September '89 ein Diskussionspapier über Alkoholprobleme vorlegte, wurde es - so vorsichtig es auch formuliert war von Regierungsseite völlig ignoriert.

Wo Probleme tabuisiert sind, bleibt Hilfe rar. Jede Psychiatrie hat eine überbelegte Suchtstation, die fast nur von Alkoholikern bevölkert ist. (Tablettenabhängige gibt es nur wenige in der DDR, Drogensüchtige praktisch - noch - gar nicht.) Aber vor der letzten Instanz, der Psychiatrie, kann ein in Not Geratener, ein Verzweifelter, lange nach Hilfe suchen. Es gibt nur ganz wenige Telefonseelsorgen, und die nur in den großen Städten, keine Ambulanzen, die anonym beraten, Selbsthilfe-Initiativen, genannt Patientengruppen, nur vereinzelt.

Kontrolle

Das bedeutet jedoch nicht, daß diese Menschen ignoriert wurden. Die durchkontrollierte Gesellschaft in der DDR kannte keine Nischen. Die mächtige Abteilung „Inneres“ und ihre „Vertrauensleute“ spähten nicht nur politisch Mißliebige aus, sondern alle, die sozial auffällig wurden. War ein Quartalssäufer mal wieder auf Tour, zeigte ein Schizophrener Symptome eines neuen Schubs, wurde die zuständige Psychiatrie sehr schnell verständigt. „Ich hab das damals als Vorteil des DDR-Regimes gesehen, daß die Leute gar nicht viel Zeit hatten, richtig krank zu werden, weil wir so zeitig Bescheid wußten“, erinnert sich Trenckmann. „Wir haben flächendeckende Psychiatrie betrieben. Auch außerhalb der Klinik haben wir für die Patienten alles organisiert. Das war nahtlos. Aber nahtlos heißt auch: total. Mir ist erst heute klar, wie wir über die Patienten verfügt haben.“ Gesellschaftliche Wirklichkeit wurde den Menschen in der DDR nur in zensierter Fassung zugemutet. Sozialkosmetik war deshalb nötig - und die Psychiatrie half dabei. Der kleine Delinquent, der arbeitslose Alkoholiker, der Stadtstreicher ohne Wohnung sollte die BürgerInnen nicht irritieren. Außerdem macht ihn sein „soziales Fehlverhalten“, seine Unfähigkeit, ein nützliches Glied der sozialistischen Gesellschaft zu spielen, verdächtig, nicht ganz richtig im Kopf zu sein.

Nach §43 der DDR-Strafgesetzordnung konnte ein kleiner Gauner, bei dem es nie für einen Haftbefehl reichte, für sechs Wochen „zur Begutachtung“ in die Psychiatrie eingewiesen werden. Der Penner, der die Parkbank einem Wohnklo in Marzahn vorzog, verschwand mit §249 (Asoziales Verhalten) von der Straße. Ähnlich erging es dem Trinker, der seine Rechungen nicht mehr bezahlen konnte, dem, der ohne feste Arbeit seinen Unterhalt „irgendwie“ verdiente: Strafverfahren, als „asoziales Element“ zunächst für sechs Wochen psychiatrisiert, im Wiederholungsfall auch „zeitlich unbegrenzt“.

Seit der Wende wurde der Asozialitätsparagraph nicht mehr angewandt. Die Forensischen Nervenkliniken verloren einen großen Teil ihrer Kundschaft. Auch eine weitere Klientel blieb seitdem aus: die, die erfolglos gegen die Mauer angerannt waren. Mit §213 (Ungesetzliches Verlassen der DDR) landeten sie im Gefängnis oder der Gerichtspsychiatrie.

„Niemand wurde in die Forensische Psychiatrie eingeliefert, nur weil er gegen die Mauer marschiert ist“, behauptet allerdings Professor Werner Ascherl, Leiter der Gerichtspsychiatrie in Buch. „Es ist nie passiert, daß jemand, der nach §213 verurteilt und mir zur psychiatrischen Behandlung überstellt wurde, nicht auch entsprechende Symptome gezeigt hätte.“ Und wie nebenbei fügt Ascherl hinzu: Außerdem hätten es viele Republikflüchtlinge vorgezogen, hinter den Gittern einer Nervenklinik statt eines Gefängnisses zu landen.

Moder

Vor allem, wenn sie in ein weniger „festes Haus“ als in Buch kamen. Doch diese Psychiatrie, ganz am Rande eines der größten Klinikkomplexe in Westeuropa (4.000 Betten, 5.000 MitarbeiterInnen) birgt seine eigenen Schrecken.

Ein langgezogenes Backsteingebäude, der Stein eine Spur zu dunkel, um noch rot zu sein, die Fenster vergittert. Sie verbergen, was hinter der Fassade seit der Kaiserzeit rottet und rostet, vermorscht und vermodert. Ein paar Treppen, eine doppelflügelige Tür, rechts die Station A, die einzige geschlossene Abteilung im Haus.

Die Stationstür ist mit dicker Ölfarbe zugekleistert. Ungesund, grünlich-beige klebt sie auch auf dem Türglas. Ein ausgekratztes Guckloch, groß wie ein Fünf-Mark-Stück, verbindet die Welt drinnen und draußen. Drinnen ist es die der psychotischen Gewaltverbrecher, der Brandstifter und Sexualtäter. Die Welt draußen schützt man vor ihnen durch die mehrfach verschlossene, klinkenlose Ausgangstür und die bei Nacht zugesperrten Patientenzimmer. Drinnen geht man durch Flure mit kränkelndem Licht, vorbei an Waschräumen, wo Becken wie Viehtröge, grob und verfärbt, aus der Wand ragen. Grünspanige Hähne strecken nackte Metallteile statt Griffe in die Luft. Vorbei an Toiletten, in deren Porzellanmuscheln die Patina von Jahrzehnten ätzt, die zu mehreren nebeneinander stehen, zu allen Seiten hin offen, die das intime Geschäft zum öffentlichen, kontrollierbaren Akt machen. Vorbei an zwei Isolierzellen mit schweren Gittertüren: zwei mal drei Meter Raum, ein Feldbett, tief in den Boden eingelassen, ein Lichtloch, 20 mal 40 Zentimeter in drei Meter Höhe, Eisenstäbe davor.

Verfall

1910 wurde die Klinik in Buch als dritte Berliner Irrenanstalt eingeweiht. Seitdem hat man das Haus und seine Eingeweide ohne große Eingriffe dem Verfall überlassen. Die Heizungsrohre sind dramatisch brüchig und machen jede Kälteperiode zu einer Zitterpartie mit bröckelnden Unbekannten. Verschlissen ist auch das sanitäre Rohrsystem. In schöner Regelmäßigkeit, alle vier bis sechs Wochen, platzt eine Leitung im Keller und ergießt knöchelhoch ihren stinkenden Inhalt. Die Therapieräume darüber atmen Abortatmosphäre. „Das Elektrosystem“, rundet Leiter Ascherl das Bild ab, „ist zwar etwas häufiger nachgebessert worden, aber das ist ihm nicht gerade bekommen. Es ist in einem desolaten, teilweise lebensgefährlichen Zustand.“

Betroffen sind davon 150 Menschen, wenn das Haus vollbelegt ist. „Die PatientInnen der Forensischen Psychiatrie haben den doppelten Makel der Geisteskrankeit und Straffälligkeit. Deshalb hatten wir nur dann eine Lobby, wenn es um restriktive Maßnahmen ging.“ Trotzdem konnten die Leiter in Buch Aufmerksamkeit für ihre Klinik erzwingen. Deren Zerfall beschäftigte den Staatsanwalt, den Minister des Inneren, selbst das ZK. Ein Neubau sollte her, als Zwischenlösung, das alte Gebäude rundum erneuert werden. Seit Ende der 70er Jahre regten sich dafür unterschiedliche Initiativen - um bald in den Fluren der Bürokraten zu veröden. Vor dem neuen Jahrtausend wird es nichts mit einem rekonstruierten Haus in Buch.

Substanz

Marode ist die Bausubstanz der DDR-Nervenkliniken allerorten. 30 Prozent der 25.000 psychiatrischen Betten stehen in Häusern, die sofort rekonstruiert oder geräumt werden müßten. Darin gibt es nicht nur große Patientensäle, sondern vor allem noch viele Zimmer mit Ofenheizung. Wenn solche äußeren Bedingungen und wenig Personal zusammenkommen, ist an eine Heilbehandlung der PatientInnen nicht zu denken. In der Provinzpsychiatrie „Schloß Hubertusburg“ beispielsweise hat das Personal gar keine Zeit zum pflegen. Statt dessen heizt es die Kachelöfen in den acht bis zehn Meter hohen Barocksälen, evakuiert PatientInnen denen gerade die Decke auf den Kopf fällt, improvisiert ständig, um nur die gröbste Funktion der Sanitäranlagen zu erhalten.

„In die Psychiatrie ist nur ein Drittel von dem investiert worden, was nötig gewesen wäre“, bemängelt der Exberater des Gesundheitsministeriums, Nickel. Jetzt ist er nämlich schlauer. Noch bis Anfang des Jahres glaubte er, daß jährlich etwa 10-12 Prozent des Nationaleinkommens ins Gesundheitswesen geflossen seien. So lauteten die offiziellen Zahlen, an denen er sich, genau wie alle anderen Kollegen, orientiert hätte. Tatsächlich aber war dem SED -Staat die Gesundheit nur 5-6 Prozent des Nationalen Einkommens wert (wobei wiederum unklar ist, welche Geldmenge sich hinter den Prozentzahlen verbirgt).

„Mit der Wahrheit ist nicht richtig rausgerückt worden“, stellt Nickel heute fest. „Zum Teil ist es uns als Psychiatern selbst anzulasten, daß wir die Probleme nicht mit der nötigen Brutalität deutlich gemacht haben.“

Untersuchung

Dafür machen das seit der Wende andere. Westmedien sahen die gesamte Psychiatrie innerlich und äußerlich verrottet und zusätzlich von der Stasi durchsetzt. Auch der vom Runden Tisch eingesetzte Untersuchungsausschuß gegen Amtsmißbrauch und Korruption befaßte sich eingehend mit diesem grauen Bereich. Ingrid Giesewatrowski ging für den Ausschuß Beschwerden von Betroffenen nach. Nach ihren Recherchen gab es nachweisbar Fälle, wo Ärzte ihre Macht mißbrauchten, um Menschen zu psychiatrisieren, gab es ebenso nachweisbar Fälle, wo die Staatssicherheit sich der Psychiatrie bediente, um unliebsame Leute verschwinden zu lassen.

Doch wie groß war die Verbrüderung zwischen Nervenärzten und Staatsspitzeln tatsächlich? Die Vorwürfe sind massiv, aber nur im Einzelfall recherchier- und verifizierbar. „Wenn sich die Herren von der Stasi angemeldet haben, wurden sie in den Kliniken, in denen ich gearbeitet hab, erstmal ins Chefzimmer geführt. Und da waren sie dann 'ne Weile. Ich denke, wenn man ihnen gesagt hätte, 'Ich sage nichts‘, wären sie nach zwei Minuten wieder herausgekommen.“ (der ehemalige Ost-Psychiater Trenckmann). „Ich hab auf gar keinen Fall in dem Sinne mit der Stasi zu tun gehabt, wie es jetzt im Sinne des politischen Mißbrauchs in Frage steht“ (Nickel). „Mißbrauch hab ich nicht durch die Stasi erlebt, sondern aus Gründen der Sozialkosmetik“ (Ascherl). „Ich bin der festen Überzeugung, daß kein Ärztlicher Direktor die Rechte seiner Patienten verletzten brauchte, wenn er sich problembewußt und patientenorientiert verhalten hat“ (Nickel). „Manchmal frage ich mich, warum uns die Stasi verschont hat“ (Ascherl). „Mir ist nicht bewußt, daß ich jemanden auf Befehl von oben oder aus anderen politischen Gründen in meine Klinik aufgenommen habe“ (Nickel). Es wäre denkbar, daß die inkriminierte Berufsgruppe an einem landesüblichen Syndrom leidet. Einem, das sie als Psychiater bisher immer behandelt haben: Amnesie.