Norbert Elias ist tot

■ Der Kulturphilosoph, Soziologe und Zivilisationskritiker starb 93jährig in Amsterdam

Berlin (taz) - Der Kulturwissenschaftler Norbert Elias ist in Amsterdam gestorben. Er wurde 93 Jahre alt. Noch 1982 hatte er ein Werk mit dem Titel publiziert: Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen. Der Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten war Schüler von Edmund Husserl, Karl Jaspers und Assistent des Soziologen Karl Mannheim. 1933 emigrierte er aus Nazi-Deutschland nach Paris, von dort 1938 nach England. Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet.

Erst 1954 erhielt er einen Lehrstuhl für Soziologie in Leicester, 15 Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes Über den Prozeß der Zivilisation in der Schweiz. In diesem Buch beschrieb er die europäische Geschichte der Neuzeit als die einer breiten soziologischen Umwälzung und Differenzierung von Sittlichkeit. Er wies nach, daß die Konstitution des Individuums selbst Veränderungen unterworfen ist, daß unsere Triebstruktur, unsere Emotionen und deren Ausdruck selbst Ergebnis von geschichtlichen Prozessen ist. Die Frage, warum Servietten und ein Badezimmer nötig wurden, wie Aggressionen sich äußern, was Intimität bedeutet, stellte er, anders als Freud, an die Geschichtsschreibung. Mit immenser empirischer Forschung wies er nach, daß Mechanismen der Abgrenzung gesellschaftlicher Gruppen voneinander in der Entwicklung von Sittlichkeit und Moral eine entscheidende Rolle spielen.

Der Kulturgeschichtler war nahezu 80 Jahre alt, als eine Taschenbuch-Ausgabe seines Hauptwerkes einem breiten Leserkreis bekannt wurde. Eine späte Würdigung erfuhr er 1977 bei der Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises. Noch in den 80er Jahren war Elias am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld tätig. Sein Lebensthema blieb die Frage, was gegen die Aggression, die Kriegslust der Menschheit zu tun möglich sei. In einem Interview mit der taz wandte er sich gegen die Geschichtsromantik der Neuzeit ebenso wie die Suche nach dem „wahren Selbst“, beides nicht zuletzt durch sein Werk inspiriert: „Auf den Dunghaufen der mittelalterlichen Städte fand man so gut wie immer Babyleichen. Nur jemand, der das Mittelalter nicht kennt, kann sich da etwas zurückwünschen... Menschen leiden daran, daß sie keine echten Gefühle im Verkehr miteinander mehr auszudrücken vermögen. Und dann geht man auf die Suche nach dem zurückgehaltenen Selbst. Aber man wird es nie finden.“ Der Wissenschaftler, selbst Opfer irrationaler Politik, plädierte für ein distanziertes Denken in Belangen der Gesellschaft. „Die Realität der Welt“, sagt er, „entspricht nicht unseren Wünschen. Warum sind wir gezwungen, den Unsinn des Wettrüstens fortzusetzen? Um solche Fragen zu beantworten, dazu ist eine erhebliche Distanzierung notwendig.“ Seine eigene Arbeit hierzu schätzte er bescheiden ein: „Ein wenig mag das Denken wohl schon helfen.“

Norbert Elias arbeitete bis zuletzt an einem Mozart-Buch. Die taz druckt morgen einen bisher unveröffentlichten Vortrag des Verstorbenen über den Komponisten.

Elke Schmitter