Ruhe und Unruhe, katastrophisch

■ Wang Xiaohui im Gespräch

Als Wang Xiaohui mir mit ihrer Kamera im Cafe gegenübersitzt, überlege ich, wie ihre Lebensgeschichte sich in ihren Fotos wiederfinden läßt. Ihr Lebenslauf liest sich, als sei sie mindestens 100 Jahre alt. Das habe sie schon oft gehört, die 33jährige zierliche Fotografin lächelt. Und so habe sie sich in China auch gefühlt, alt und krank. Wenn Wang Xiaohui von China spricht, spricht sie von Katastrophen.

Von der Katastrophe der Kulturrevolution, während der es lebensgefährlich war, Künstlerin zu sein wie zum Beispiel ihre alleinerziehende Mutter. Die Mutter, eine Komponistin, wurde als „stinkende Nummer neun“ (Ausdruck für Intellektuellenbeschimpfung während der Kulturrevolution) von der Musikhochschule verbannt; die Familie hielt das Klavier aus Angst vor den Rotgardisten unter Verschluß und verkaufte die Noten, versteckt unter Zeitungspapier, als Altpapier, das Kilo für sechs Pfennig. Den Bauern schien die Komponistin als Arbeitskraft nicht brauchbar, die Tochter dagegen um so interessaanter. Wang Xiaohui flüchtete zum Vater, besuchte die Mutter nur heimlich, nachts.

Die künstlerischen Ambitionen der Tochter beängstigten die Mutter, sie wußte nur zu gut, daß es in China in jeder politischen Kampagne immer zuerst die Künstler sein würden, die in das Schußfeuer der Kritik gerieten. Wang Xiaohui spielte heimlich Klavier, schrieb kleine Theaterstücke mit zeitgemäßen, revolutionär klingenden Titeln. Sie lernte Akkordeon spielen, da sie dieses Instrument aufs Land würde mitnehmen können, und sie befürchtete immer noch, dorthin verschickt zu werden.

Wang Xiaohui lächelt und fotografiert ein angepunktes Pärchen, das sich gelangweilt über die Cafetische räkelt. Sie braucht offenbar diese fotografische Verschnaufpause, bis sie weitererzählen kann. - Die nächste Katastrophe. Das Erdbeben von Tangshan, 1976.

Tausende von Menschen werden verschüttet und verlieren ihr Obdach. Unter ihnen Wang Xiaohui und ihre Mutter in Tianjin. Die Menschen rücken zusammen und kämpfen. Sie kämpfen um das knapper werdende Wasser und einen Platz mit Schatten. Mutter und Tochter wird beides verwehrt, weil sie nicht schon „seit drei Generationen rot“ seien. „Die menschlichen Beziehungen wurden auf einmal offengelegt“, sagte Wang Xiaohui leise.

Vielleicht sind es auch aufgrund dieser Erfahrungen nicht die Menschen, die ihre Bilder bestimmen. Es ist die Sehnsucht nach gestalteter, ruhiger Ordnung, die sie treibt. Nicht um ein Abbild der Wirklichkeit, der häßlichen konkreten, geht es ihr, sondern um geschaute Harmonie im Alltäglichen. Nach der Kulturrevolution studiert sie der Mutter zuliebe Architektur, das Fach, das ihr unter den technischen am „künstlerischsten“ erscheint. Sie ist erfolgreich, wird Assistentin an der renommierten Tongji -Universität in Shanghai, reist, fotografiert und bekommt erste Preise. 1987 kommt sie als Stipendiatin nach Deutschland und lebt seitdem in München. Ihre Biographie sprengt inzwischen sämtliche Formulare deutscher Bürokratie. „Beruf“: Fotografin, Architektin, Autorin, Malerin, Hochschullehrerin. In Deutschland beginnt sie zum ersten Mal in ihrem Leben sich „jung zu fühlen“. „Immer habe ich getan, was ich tun mußte. Nun kann ich endlich tun, was ich will. Doch kommt jetzt ein ganz neues Problem auf mich zu. Hier in der Freiheit zu leben, tun und lassen zu können, was ich will, da weiß ich manchmal nicht mehr, was ich will“, sagt Wang Xiaohui und lächelt.

Beate Rusch