Die Geiseln der Khmers Rouges in Site 8

■ In Lagern an der Grenze zwischen Thailand und Kambodscha warten 270.000 Kambodschaner auf die Rückkehr / Humanitäre Erwägungen spielen im internationalen Poker um den Kambodscha-Konflikt keine Rolle / Die Khmers Rouges benutzen die Lager zur Rekrutierung von Kämpfern

Von Michael Sontheimer

Aranyaprathet: Der Bürgerkrieg in Kambodscha, der Schmuggel und die Hilfsgelder für die kambodschanischen Flüchtlinge haben dem verschlafenen Grenzstädtchen einen unerwarteten Boom beschert. Mehr als 300 Ausländer leben in „Aran„; in der rush hour verstopfen die Jeeps der Hilfsorganisationen die Straßen. Abenteuerlustige freelancer aus aller Herren Länder sorgen dafür, daß die drei Hotels gute Geschäfte machen. Wenn die Journaille sich abends im „Kim-Kim“ oder bei „Ploen“ versammelt, erzählen die Veteranen Anekdoten aus dem Vietnamkrieg, die jüngeren aus dem Sudan oder aus Beirut.

Immer wieder tauchen auch Diplomaten auf, so wie jener britische Vizeaußenminister, der nach etlichen Gläsern Wein fragt, wer denn dieser Pol Pot eigentlich sei. Am Nebentisch betrinkt sich derweil General Nel Dien, der stellvertretende Oberbefehlshaber der KPLNF-Truppen, während seine Untergebenen sich um die Ecke in jener Straße vergnügen, in der sich ein Bordell an das andere reiht. Hin und wieder sind dumpfe Detonationen zu hören, aber sie kommen aus sicherer Entfernung. C'est la guerre - wenn da drüben im Osten nicht Tag für Tag arme Bauernjungen verrecken würden, wäre es richtig lustig.

In mehr als zwölf größeren Lagern warten seit über zehn Jahren rund 270.000 Kambodschaner darauf, daß sie in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Die Flüchtlingslager werden von den drei Fraktionen der Koalitionsregierung „Demokratisches Kamputschea“ verwaltet. Site 2, das mit 150.000 Bewohnern größte Lager, steht unter Kontrolle der Khmer Peoples Liberation National Front (KPLNF), die von dem ehemaligen Premierminster Son Sann angeführt wird.

Die Anhänger Prinz Norodom Sihanouks herrschen in Site B nördlich von Aranyaprathet. Journalisten dürfen, sofern das Oberkommando der thailändischen Armee die Genehmigung erteilt, lediglich drei Vorzeigelager entlang der Grenze besuchen: Site 2, Site B und Site 8, das unter der Kontrolle der Khmers Rouges steht.

Südlich von Aranyaprathet beginnt die Einflußzone der Khmers Rouges. Auf dem Weg nach Site 8 begegnet uns ein chinesischer Lkw, der bis oben hin mit Bauholz, Bambusmatten und anderem Umzugsgut beladen ist. Unmittelbar östlich der erst vor kurzem erbauten Straße beginnt Kambodscha. Der Lastwagen, auf dem auch ein paar Soldaten mit grünen chinesischen Uniformen neben ihren Frauen und Kindern sitzen, biegt nach Osten auf einen kleinen Feldweg ab. Seriösen Gerüchten zufolge hat die thailändische Armee angeordnet, daß die vielen kleinen Khmers Rouges-Lager, zu denen die internationalen Organisationen keinen Zutritt haben, wieder auf kambodschanisches Territiorum verlegt werden müßten.

Am Eingang von Site 8, in der Baracke der Displaced Persons Protection Unit (DPPU), in der sich Besucher und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen anmelden müssen, herrscht eine ungewöhnliche Hektik. Ein israelischer General wird zu Besuch erwartet. Ein gutes Dutzend thailändischer Soldaten mit amerikanischen Schnellfeuergewehren ist für die Sicherheit des hohen Gastes aufgeboten, eine Rednertribüne und ein Sonnendach wurden eigens aufgebaut.

Die Anwesenheit von Journalisten bei seinem Empfang sei „aus Sicherheitsgründen“ nicht erwünscht, heißt es bei der DPPU. Ich solle doch zunächst die sozialen Einrichtungen des Lagers besuchen. Zu meiner persönlichen Sicherheit werde mich dabei eine Soldatin der DPPU begleiten. Zuvor solle ich mir noch die Regulations for Journalists durchlesen.

Diese besagen unter anderem: „Vermeiden Sie es, Personen zu filmen oder zu photographieren, die aussehen wie Soldaten.“ Eine Ermahnung, die durchaus Sinn macht: Seit mehr als zehn Jahren werfen Journalisten, vor allem aus England, den westlichen Regierungen vor, daß ihre als rein humanitär deklarierte Hilfe für die Flüchtlinge in einem beträchtlichen Ausmaß auch den Soldaten Pol Pots zugutekommt.

Schon ein kurzer Rundgang in Site 8 beweist, daß diese Vorwürfe voll und ganz zutreffen. Allenthalben begegnen einem Männer in grünen chinesischen Uniformen. Manche von ihnen tragen blau-weiß-rot beschriftete Wassereimer mit der Aufschrift: Provided by the People of the United States of America. Ein Mitarbeiter einer privaten Hilfsorganisation berichtet, daß in Site 8 noch vergleichsweise wenig Soldaten leben. In Site K hingegen, das ebenfalls von der United Nation Border Relief Operation (UNBRO) versorgt wird, seien fast nur Männer in Uniform zu sehen.

Nachdem das Internationale Rote Kreuz und UNICEF mit ihrer großangelegten Hilfsaktion den drohenden Hungertod der Flüchtlinge entlang der Grenze abgewendet hatten, wurde im Januar 1982 auf Anregung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen die UNBRO gegründet. Sie versorgt seitdem die Flüchtlinge mit dem Grundbedarf des täglichen Lebens: Decken, Moskitonetze, Feuerholz, Wasser, Lebensmittel oder auch Schulbücher.

1989 wurden für die Bewohner der Flüchtlingslager rund 60 Millionen Dollar ausgegeben. Für die rund sieben Millionen Kambodschaner wendeten westliche Regierungen und private Hilfsorganisationen hingegen lediglich 25 Millionen Dollar auf. Die Bundesrepublik Deutschland spendete an die UNBRO von 1982 bis 1989 insgesamt 2,249 Millionen US-Dollar, allerdings mit deutlich abnehmender Tendenz.

Als die UNBRO im vergangenen Jahr in Site 8 eine Volkszählung veranstaltete, stellten ihre Mitarbeiter mit Schrecken fest, daß hier nicht 41.000 Menschen lebten, wie die Khmers Rouges-Verwaltung angegeben hatte, sondern lediglich 32.000. Wohin die 9.000 Rationen verschwanden, die Woche für Woche zuviel ausgeteilt wurden, läßt sich unschwer vermuten: in die vielen militärischen Camps, die rund um Site 8 verteilt sind.

Im Vergleich zu Site 2, wo eine Handgranate umgerechnet eine Mark kostet und Raub und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind, wirkt Site 8 wie ein beschauliches kambodschanisches Dorf. Die Hütten, die am Fuße einer schroffen Felswand errichtet wurden, stehen nach der traditionellen Bauweise der Khmer auf Pfählen. Die Blusen und Röcke der Frauen leuchten wie in Kambodscha in grellen Farben. Im Schatten von Bananenbäumen scharren Hühner, die Wege sind ausgesprochen sauber. Vereinzelt ist klassische Khmer-Musik zu hören.

In der Rehabilitationsabteilung des Krankenhauses sitzen sechs junge Männer. Sie haben ihre hölzernen Krücken beiseite gestellt und die Prothesen abgeschnallt. „Ich habe noch immer Schmerzen“, sagt Phak. Der Khmers Rouges-Soldat deutet auf den Stumpf unterhalb seines Knies. „Sie haben es schlecht amputiert.“ Vor drei Monaten ist er auf eine sowjetische Mine getreten. Vor ihnen hätten die Soldaten am meisten Angst. „Sie liegen überall.“ Phak ist 26 Jahre alt, acht Jahre hat er für die Khmers Rouges gekämpft. Warum? „Ich habe mit meiner Familie in der Provinz Kratie gelebt. Meine Eltern sind bei einem amerikanischen Bombenangriff umgekommen, als ich noch ein kleiner Junge war. Also bin ich mit den Khmers Rouges in den Wald gegangen, und später habe ich mit ihnen gekämpft.“

Während seine einbeinigen Kameraden verbitterte, harte Kindergesichter haben, hat Phak einen offenen, warmen Blick. „Ich glaube, wir sind die besseren Soldaten“, räumt er ein und lacht schüchtern. Aber trotzdem sei es nicht leicht, gegen Brüder des eigenen Volkes zu kämpfen. „Mir ist es zweimal passiert, daß ich plötzlich Verwandte vor mir hatte. Da habe ich nicht geschossen, und sie auch nicht.“ Er hat noch einen Onkel im Lager, aber er hofft, daß ihn die Armee oder Regierung jetzt unterstützt. Er würde gerne als Mechaniker arbeiten, das ginge auch mit einem Fuß, sagt er. „Hoffentlich können wir bald nach Kambodscha zurück.“ - Was sind sonst seine Wünsche für die Zukunft? - Phak überlegt lange, dann sagt er: „Ich möchte gerne in einem freien Land leben.“

Die Vertreter des United Nations High Commissioner on Refugees (UNHCR) wollten schon längst mit der Repatriierung der Flüchtlinge beginnen, doch sie hatten von Anfang an schlechte Karten: die Flüchtlinge sind Geiseln der Widerstandskoalition - also unabkömmlich. Nicht nur die Mentoren der Khmers Rouges in Beijing versuchten alles, um ihre Schützlinge zu retten, auch Thailand und die Vereinigten Staaten waren in hohem Maße daran interessiert, die von den Vietnamesen installierte Regierung in Phnom Penh zu bekämpfen. Dafür mußten die Khmers Rouges vor dem drohenden Untergang bewahrt und ihre Anerkennung als legitime Regierung in den Vereinten Nationen gerettet werden.

Im Rahmen dieser Strategie sprachen mehrere Gründe dafür, die Flüchtlinge unmittelbar an der Grenze auf kambodschanischen Territorium zu konzentrieren: Prinz Sihanouk und die Khmers Rouges, die 1982 eine Koalition mit der KPLNF eingingen, konnten so reklamieren, daß sie noch immer einen Teil des Territoriums beherrschen. Sie konnten sich als politische Vertretung dieser Flüchtlinge darstellen und in den Lagern mehr oder minder gewaltsam Kämpfer rekrutieren. Außerdem waren die Flüchtlinge als lebendes Schutzschild für die Khmers Rouges und als Puffer zwischen den vietnamesischen und thailändischen Truppen von Nutzen.

Die UNHCR verlangte immer wieder, die Flüchtlinge in sicherem Abstand von der Grenze neu unterzubringen, aber solcher Humanitätsduselei konnte offenbar niemand etwas abgewinnen: Thais, Amerikaner und Chinesen und ihre Schützlinge des Widerstands hatten die Flüchtlinge de facto zu Geiseln ihres anti-vietnamesischen Feldzuges gemacht.

Ee Oo, der in der Verwaltung von Site 8 für Gesundheitsfragen verantwortlich ist, sitzt in seinem Haus und liest in der 'Nation‘, einer englischsprachigen Tageszeitung aus Bangkok. Der vielleicht 50 Jahre alte grauhaarige Mann bittet mich freundlich, Platz zu nehmen, und bietet ein Glas Wasser an.

„Die Vietnamesen machen gute Propaganda im Westen“, klagt er. „Sie geben uns die Schuld, daß die Friedensverhandlungen nicht vorankommen, und behaupten, wir wollten das Problem nicht lösen.“ Aber das sei eine Lüge. Das Demokratische Kamputschea wolle, daß alle vier Fraktionen sich an einen Tisch setzen und das Problem gemeinsam lösen. Aber Hun Sen und seine Regierung in Phnom Penh sei den Vietnamesen hörig. „Wenn sie wirklich eine politische Lösung wollen“, fragt der Khmers Rouges-Kader, „warum bleiben sie dann so hart?“ Er weiß auch die Antwort. „Ihr Ziel ist es, das Demokratische Kamputschea zu zerstören. Sie wollen die Widerstandskoalition spalten, aber das wird ihnen nicht gelingen.“

Ee spricht mit einer weichen Stimme, lacht immer wieder fröhlich auf. Kaum vorstellbar, daß dieser freundliche Herr zu jener mörderischen Bande gehört, deren mögliche Rückkehr heute die meisten Kambodschaner in Angst und Schrecken versetzt. „Es hat keinen Sinn, immer in die Vergangenheit zu blicken“, befindet er. „Wir müssen die Zukunft im Auge haben und unser zerstörtes Land wieder aufbauen. Alle sollten die Waffen abliefern.“

Nachdem die vietnamesische Volksarmee die Khmers Rouges vertrieben hatte, instruierte Deng Xiaoping seine Schützlinge zu einer radikalen Revision ihrer Propaganda. „Wir vertreten nicht mehr die sozialistische Linie“, erklärt denn auch Seng Sok, der Chef der Lagerverwaltung, ein vielleicht 40 Jahre alter Mann mit einem pockennarbigen feisten Gesicht. „Wir sind jetzt für den Freien Markt und den Kapitalismus“, sagt er, während eine junge Frau Coca Cola auf den Tisch stellt. „Aber wir legen auch Wert darauf, daß die armen Leute Arbeit und genug zu essen haben. Und wir wollen, daß die Leute die Khmer-Kultur nicht vergessen.“

Macht er sich keine Sorgen darum, daß Australien und die westeuropäischen Regierungen ihnen die diplomatische und humanitäre Unterstützung aufkündigen könnten? „Nein. Wir rechnen mit der Solidarität der kleinen Staaten, die wie wir Khmer von Aggression bedroht sind. Und Ihre Regierung hat uns ja auch unterstützt und in der UNO gegen die vietnamesische Aggression und für die Menschlichkeit gestimmt.“

Hinter ihm an der Wand hängt ein Plakat mit der Universal Declaration of Human Rights der Vereinten Nationen. Nach den Menschenrechtsverletzungen der Khmers Rouges gefragt, räumt er ein: „Wir haben Fehler gemacht, als wir von 1975 bis 1979 das Land regiert haben. Die Evakuierung der Städte war nicht richtig. Sie hat dazu geführt, daß Menschen verhungert sind. Für manche Teile des Landes war der Plan, die Reisernte zu verdreifachen, unrealistisch. Die Menschen mußten zu hart arbeiten.“

Seng Sok stößt auf, dann führt er weitere Argumente dafür an, daß sich die Khmers Rouges wirklich gewandelt hätten. Bereits 1979 sei eine neue Charta verabschiedet und zwei Jahre später sei die Kommunistische Partei Kamputscheas aufgelöst worden. Für die Menschenrechtsverletzungen präsentiert er eine Erklärung, die es in sich hat: „Zu den Übergriffen auf die Bevölkerung konnte es allerdings nur kommen, weil sich vietnamesische Spione und Agenten unter unsere Kader eingeschlichen haben. Sie haben diese Grausamkeiten verübt, weil sie das Demokratische Kamputschea zerstören wollten.“

„Das ist alles Maskerade“, sagt ein Europäer, der schon lange in verschiedenen Lagern arbeitet. „Site 8 ist zum Vorzeigen für die Ausländer. Bis vor einem Jahr gab es auch hier sporadische Exekutionen, aber inzwischen läuft alles wunderbar. Im Gegensatz zu den anderen Lagern gibt es so gut wie keine Korruption und die Disziplin ist hervorragend. Sie haben es nicht mehr nötig, Gewalt auszuüben, ihr Ruf ist schrecklich genug. Aber in den militärischen Camps kommt es regelmäßig zu Exekutionen. Und die Leute in Site 8 sind für die Khmers Rouges-Führung schon infiziert und verloren. Irgendwann kommt die Säuberung. Die Khmers Rouges werden sich nie ändern. Sie waren schon immer die großen Meister der Lüge.“

Copyright: Rowohlt Verlag, 1990. Der Text ist ein überarbeiter Auszug aus dem Buch „Kambodscha - Land der sanften Mörder. Ein Bericht aus Indochina“, das Anfang August in der Reihe rororo-aktuell erscheint.