Überwältigung des Überbaus

Gibt es eine „geistige Kolonisierung“ der DDR?  ■ G A S T K O M M E N T A R

Nachdem die wirtschaftlichen Aspekte der Einverleibung staatsvertraglich so gut wie abgehakt sind, kommt nun, als absichernde Maßnahme, die Überwältigung des „Überbaus“ an die Reihe. In immer noch vertraut klingenden Kategorien heißt das: Auf die ökonomische Umwälzung folgt die „Kulturrevolution“.

In breiter (West-)Pressefront wird der DDR-Kultur bewiesen, daß es sie eigentlich nie gegeben hat. Attacken auf DDR -Literaten (allen voran die vielleicht überfälligen, aber arrogant geführten Auseinandersetzungen um Christa Wolf oder Heiner Müller) sind da nur ein Symptom. Ob Film, Kunst, Theater - nachträglich wird alles aus der Welt geredet, was als notwendig eigenartiger Kulturprozeß so etwas wie eine geistige DDR-Geschichte darstellen könnte. Traditionell solidarische Ost-West-Gruppen, wie etwa der urbanistische Gesprächskreis „9. Dezember“ in Berlin drohen zu zerbrechen, weil westliche Teilnehmer ihren Ost-Partnern Verstocktheit im Beharren auf eigenen, in jahrelanger Arbeitsmühsal entwickelten Gedanken vorwerfen; dabei hatten sie vorher das Wachsen der „östlichen“ Denkansätze und Lösungsversuche mit wohlwollendem Interesse verfolgt. Auf allen Ebenen sehen sich gesprächswillige DDR-Intellektuelle zunehmend mit hegemonialer Herablassung konfrontiert, wenn sie Gleichberechtigung im ost-westlichen Gedankenaustausch erwarten. Auch der taz-Streit um die Veröffentlichung der Stasi-Adressen wird von vielen Beteiligten/Betroffenen der DDR-Redaktion so erlebt: als ein Kampf um das Recht auf die eigene Geschichte, auf eigene Lebenserfahrung und daraus abgeleitetes eigenes politisches Verhalten. Aber die Infragestellung dieses Rechts auf den selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Herkunft ist der Generalangriff auf die Identität einer sozialen Gemeinschaft. Wo er zielstrebig und bewußt betrieben wird, muß man den Vorgang eine nun auch geistige Kolonisierung nennen. Daß die herrschenden Machtinstanzen solche Angriffe mit sicherem Gespür für potentiellen Widerstand gnadenlos zu führen bereit sind, beweist die massiv betriebene Zerschlagung von Rundfunk und Fernsehen der DDR, die sich in den letzten Monaten nicht nur zu einer völlig neuen Form massenmedialen Selbstverständnisses durchgekämpft haben (von dem auch bundesdeutsche „Anstalten“ einiges abgucken könnten), sondern die - ähnlich einem reformierten FDGB, der noch rechtzeitig ausgeschaltet werden konnte - durchaus zu einem Mobilisierungsfaktor für DDR-Identität taugen könnte. Da allerdings seien ARD und ZDF davor!

Wenn nun die Überlegenheitsattitüde auch linke Diskussionszirkel zu erfassen und zu zersetzen beginnt, ist das eine weitere, schlimme Etappe in der Katastrophe linken Unvermögens, auf die konservative und nationalistische Offensive der staatlichen Vereinnahmer zu reagieren. In der Niederringung des Anspruchs von DDR-Leuten auf Anerkennung und Achtung - wenigstens ihrer eigenartigen, schwierigen Identität - zeigt sich, daß offenbar auch die westliche Intelligenzija mit erheblichen Verdrängungsproblemen zu ringen hat: Sollen so die eigenen früheren Anmbitionen nachträglich korrigiert werden? Oder waren die kritschen Geister schon damals in Wirklichkeit ganzdeutsch und haben es nur nicht gemerkt?

Wolfgang Kil