Anfeuern, Tuscheln, Einschluß

■ „Bloody English Garden“: Theatergastspiel im Oslebshausener Knast

Es ist eine lange Fahrt nach Oslebshausen, mit dem Bus, der Straßenbahn und wieder mit dem Bus. Aber am weitesten ist dann der Weg von draußen nach drinnen. Kontrolle am Eingang, dann über einen menschenleeren Vorhof, durch ein großes, schweres Gitter. Kein Mensch zu sehen, alles wie ausgestorben. Weiter rechts liegen neue Gebäude; das Hauptgebäude, an dem ich entlang gehe: dunkelroter Klinker, neugotisch finster, alle Fenster vergittert. Aber davor ein bremisch gepflegtes Rabattenbeet. Tagetes, Allyssum, Margeriten.

Ich muß in den hinteren Teil des riesigen Geländes, eine steile Stahltreppe hinauf. Dort oben, über der Bibliothek und den Schulräumen, ist die Aula, der Platz für Kulturelles. Gitter vor den Fenstern, die man von drinnen aber nicht sieht, da die Fenster schwarz verhängt sind. Ich stelle mich raus, vor die Tür, mit Blick auf das Zentralgebäude. Ein Haus mit zwei Flügeln und einem Zwischentrakt. Eine wilhelminische Trutzburg, der Mitteltrakt aber mit Kirchturm. Das Gefängnis als Sakralbau.

Ein junger Knacki erzählt mir: „Gibt's irgendein Kulturangebot vor halb sieben, kommt garantiert keiner, da hat jeder Angst, daß Drogen reinkommen und er kriegt nichts davon mit.“ Um halb sieben ist Einschluß.

Das Theater soll um halb sieben beginnen, „A Bloody English Garden“, gespielt vom Jugendclub des Bremer Theaters. Ein Stück um die Gefährdung Jugendlicher. Kein Job, kein Geld, kein Sinn im Leben. Da erfährt man am ehesten beim Randalieren, daß man überhaupt lebt. Bis einer der Jugendlichen, Mike, bei der alten Maisie zum ersten Mal Verständnis erfährt.

Viertel nach sechs. Die Schließer bringen die Knackis in kleinen Gruppen. Etwa 90 kommen, darunter ein Dutzend Frauen. Die meisten sind so Mitte zwanzig bis Mitte dreißig. Sie setzen sich links und rechts vom Mittelgang, die Frauen werden in die ersten zwei Reihen links gesetzt, die Männer können sich ihre Plätze aussuchen. Einige setzen sich ganz nah hinter die Frauen, um sich mit ihnen zu unterhalten.

Gespräche in kleinen Gruppen, der Geräuschpegel schwillt an. Ich sitze neben zwei martialisch von oben bis unten tätowierten Männern. Sie sind damit nicht die einzigen. Doch manche sehen aus wie der nette Junge von nebenan. Die Schauspieler beginnen, es wird ruhig.

Das Stück beginnt mit action: Jimbo hält Killer das Schnappmesser an den Hals. „Stich doch zu, mach schon“, wird Jimbo aus den Stuhlreihen angefeuert. Dann die zweite Szene, Mike bei der Alten, die die Familienbilder abstaubt. Und jetzt teilt sich das Publikum. Auf der rechten Seite Aufmerksamkeit, links beginnt das Getuschel. Wie Schüler. Ob die wohl wirklich Tee in der Tasse hat oder nicht eher Cognac? Und dann wieder Zwischenrufe, die zeigen: sie quatschen zwar, aber sie schauen auch zu, jedenfalls in den Szenen mit action.

Nach einer guten halben

Stunde gehen die ersten raus, kommen wieder rein, andere gehen raus ... Die Unruhe der einen nimmt zu, die anderen hingegen wirken richtig gefesselt. Aber die Schauspieler merken vor allem die Unruhe, sie spielen verzweifelt dagegen an, werden selbst lauter, spielen die leisen Stellen schneller. Sie sind froh, als sie das Stück endlich über die Bühne gebracht haben.

Applaus. Die Frauen müssen sofort weg, die Wärterin klappert mit den Schlüsseln. Die Männer könnten noch bleiben und disku

tieren, die meisten gehen, wenige bleiben. Wir müßten die Unruhe verstehen, meinen sie, obwohl sie sich selbst gestört fühlten: so ein Theater sei halt vor allem die Möglichkeit, sich zu treffen. Aber das Stück hätte ihnen gefallen.

Überhaupt Theater: einmal aus der Lethargie herausgerissen zu werden. In die sie, da sind sie ohne jede Hoffnung, gleich wieder zurückfallen werden.

Als ich gehe, ist das Gelände wieder wie ausgestorben. Christine Spies