Ein alltäglicher Ort und ein Mord

■ Ein Roman von Marguerite Duras, verspätet übersetzt

Den erst jetzt in deutsch erschienenen Roman Im Sommer abends um halb elf veröffentlichte Marguerite Duras schon 1960 in Paris, im selben Jahr, als sie das Drehbuch zu Alain Resnais‘ Film Hiroshima mon amour schrieb.

Vier Menschen fahren durch die glühende Sonne nach Madrid, ein Unwetter zwingt zum Abbruch der Fahrt, ein kleines Dorf bietet Zuflucht, ein überfülltes Hotel Schutz vor dem Regen.

Ein typisch spanisches Dorf, ein oder zwei Cafes, schiefe Dächer, Fenster, Steine und Menschen, ein alltäglicher Ort und ein Mord.

Rodrigo Paestra tötete aus Eifersucht seine erst 19jährige Frau und ihren Geliebten. Spanien, auch das Land der Liebe und der Eifersucht.

Zwei Leichen liegen unter einer Decke im Rathaus. Wie die Haut, das Fleisch den Blick verwehrt in ein Innen, so spürt Maria etwas hinter den Blicken von Pierre und Claire, ein Beginnen.

Judith, ihre Tochter, schläft auf dem Hotelgang. Es regnet, die Polizei sucht den Mörder, der Balkon gibt den Blick frei über die Dächer, sie raucht, der Wind zerrt an ihr, Blitze zucken durch die Nacht und ihre Augen suchen etwas, ein Begehren gegen das Begehren der Anderen, ein Suchen, weg von sich, sehnsüchtig, erhitzt, wie nackte Haut schreit sie sich dem Regen entgegen. Ihr Blick geht über die Dächer, während er sein Ziel findet, „fängt wieder das eheliche Gemurmel an, langsam, matt“, nach „dem vorhergegangenen Beischlaf wird vom Sommer gesprochen, von diesem Sommergewitter und vom Verbrechen Rodrigo Paestras“.

Sie spricht nicht von dem Verbrechen Rodrigos, des zweifachen Mörders, sie sieht ihn.

Der Mörder ist auf die Dächer geflüchtet, die Dunkelheit, der Regen sollen ihn schützen. Und während Maria, die sich über das Balkongeländer beugt, die Rufe und Befehle der Polizei verfolgt, die trotz des Gewitters nicht enden, erblickt sie eine Etage höher noch einen Mann, der sich nicht verbirgt wie ein krankes, verletztes Tier, der Hände hat, die sich bewegen, und „eine Hand von Pierre tastet sich über dan ganzen Körper dieser anderen Frau. Mit der anderen Hand drückt er sie an sich. Die Sache ist besiegelt, ein für allemal. Es ist halb elf Uhr abends. Im Sommer.“

Die Zeit geht weiter, die Hände, der Regen, das Blitzen. Und ihre Blicke, „als er es tut, tut auch sie es, sie legt ihre Hände auf ihre einsamen Brüste, dann fallen ihre Hände wieder heraub und klammern sich, nutzlos, am Balkon fest“.

Maria ist nun von Pierre getrennt, der sich diese Nacht noch von Claire trennen muß. Getrennt ist Maria nicht nur von Pierre, durch die vorangegangenen Senkunden, ihre Begierde gehörte von der ersten Sekunde dem Mörder Rodrigo, dem Mörder zweier Menschen, dem Ziel ihrer Begierde ruft sie und singt sie sich, gierig, lösend aus einer stillen, schmerzlicgen Einsamkeit, ihre Begierde feiernd, entgegen. „Die Frau ist Sehnen“, sagt Duras, die beginnende Raserei ist der skandalöse, konträre Angriff gegen den alltäglichen Konsens, das Palaver, dem Talmi einer Begierde ohne Begehren.

Leicht gewinnt die Handlung, die so banal-alltäglich vor dem Hintergrund zweier Morde beginnt, Konturen. Die vielschichtigen Emotionen, die zwischen den Figuren herrschen, werden fast unerträglich, werden zu einer erotischen, thrillerhaften Spannung, die zunimmt, als die Familie im Auto nach Madrid fährt, und sich entlädt, als Maria die Fahrt unterbrechen will. Es treibt sie zu dem Mörder zurück, der bisher wortlos blieb, nur seine Augen schauten sie an, die Augen eines Mörders, erschöpft, verletzt, gehetzt, diese Augen, in denen auch das Begehren war, sind dort irgendwo im Kornfeld, schauen sie vielleicht schon an, dieses Kornfeld verdeckt seinen Körper, unerträglich wie die Hitze ist ihr Begehren, es ist ihr Begehren, sie ist es ganz, totalisiert als Frau, selbstvergessen dringt sie in dieses Kornfeld ein, in das Bauern schon seit Stunden mit Mähmaschinen tiefe Schneisen schneiden.

Es endet mit dem Tod.

Frank Mühlich

Marguerite Duras, Im Sommer abends um halb elf. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. Suhrkamp Verlag, 224 Seiten, 32 DM