„Rehabilitierung ist eine Entschuldigungsgeste“

Dr. Martina Weyrauch, Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufdeckung von Amtsmißbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung, über den Entwurf des Rehabilitierungsgesetzes / Die Aufhebung von Urteilen reicht nicht aus  ■ I N T E R V I E W

taz: Über fünfzig Kassationsverfahren zur „Freisprechung unrechtmäßig Verurteilter“ sind eingeleitet worden. Die Abschaffung der Polit-Paragraphen des Strafgesetzbuches wird von der Volkskammer abgesegnet. Wozu brauchen wir noch ein Rehabilitierungsgesetz?

Weyrauch:Durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz sollen vor allem die Kapitel 2 und 8 des Strafgesetzbuches der DDR Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik und Straftaten gegen die staatliche Ordnung - revidiert werden, weil damit „Gegner des Systems“, die einfach nur ihre politischen Grundfreiheiten wahrnehmen wollten, kriminalisiert wurden. Nun zu den Kassationsverfahren, die bereits gelaufen sind.

Es werden dabei im Moment bestimmte Prominente herausgepickt, die unbedingt rehabilitiert werden müssen, damit man nach außen hin dokumentieren kann, daß man wiedergutmachen will. In den Kassationsverhandlungen wird Kassation und Rehabilitation vermengt. Kassiert werden dürfen eigentlich nur Urteile, die schon damals, als sie gefällt wurden, geltendes Recht verletzten. Diese Kassationsverfahren werden dann zur Farce, wenn mit juristischen Konstruktionen versucht wird, das geschehene Unrecht zu erklären und wiedergutzumachen. Es wird nicht sichtbar, in welchem Punkt sich denn die Justiz inhaltlich und konzeptionell von ihrem vormaligen Vorgehen gelöst hat. Die Verfahren können nur ein Stück zur Aufarbeitung der Justizvergangenheit sein. Ich habe große Bedenken bei dieser Art der strafrechtlichen Rehabilitierung, weil nur Gerichte die damaligen Urteile von Gerichten aufheben können. Das ist zwar rechtsstaatlich akzeptabel, hat aber menschliche und ethische Nachteile.

Die Betroffenen befinden sich vor Gericht wieder in einer verabscheuungswürdigen Situation und werden keine Genugtuung über den Freispruch empfinden können.

Bleibt also nur das Rehabilitierungsgesetz. Wie ist der Entwurf entstanden?

Seit spätestens Mitte der 80er Jahre gab es unter den Rechtwissenschaftlern und Juristen interne Diskussionen über Sinn und Unsinn politischen Strafrechts. Gleich im Oktober/November wurde damit begonnen, ein Rehabilitierungsgesetz zu konzipieren. Zunächst ging es nur um „Straftaten, die politisch motiviert“ waren. Die Untersuchungskommissionen zur Aufdeckung von Amtsmißbrauch und Korruption, Basis- und Selbsthilfegruppen mußten im Gespräch mit den Betroffenen feststellen, daß das Ausmaß des Unrechts viel größer ist. Im Februar 1990 hat die Kommission die das Gesetz erarbeitete und an der sämtliche Vertreter des Runden Tischs beteiligt waren beschlossen, die strafrechtliche Rehabilitierung durch die berufliche und verwaltungsrechtliche zu erweitern. Beim Strafgesetz war der Punkt ja, daß meistens nicht die Handlung politisch motiviert war, sondern die Strafverfolgung. Zum Beispiel, wenn der Westberliner Sender Rias mal wieder ein Preisausschreiben veranstaltete, dann schrieben Jugendliche dorthin, um eben eine Platte zu gewinnen. Das konnte nach dem klassischen politischen Strafrecht als „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ gewertet und mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren geahndet werden.

Was kann ein Rehabilitierungsverfahren bringen? Vor allem materielle Entschädigung?

Die Rehabilitierung hat zwei Ziele. Zum einen soll der betroffene Mensch vom Makel der Verurteilung befreit, ihm eine innere Genugtuung verschafft werden. Es ist eine Geste der Entschuldigung. Vor der Gesellschaft wird gezeigt, er ist zu Unrecht verurteilt worden. Es sind aber Vermögens-, soziale und gesundheitliche Schäden entstanden, die nicht wieder gutgemacht werden können. Das Wenige, was das Rehabilitierungsverfahren kann, muß ausgeschöpft werden. Das Strafrechtsänderungsgesetz und das Rehabilitierungsgesetz müssen erneut Anlaß sein, über den Charakter von Justiz nachzudenken, nicht nur in der DDR. Gesinnungsstrafrecht muß konsequent ausgeschlossen werden.

Also könnte es passieren, daß in fünf Jahren wieder ein Rehabilitierungsgesetz fällig ist?

Das denke ich nicht, weil die verfassungsmäßige Ordnung des zukünftigen Deutschlands, die sich ja hauptsächlich an das System der Bundesrepublik anlehnen wird, schon wesentliche demokratische Eckpfeiler enthält, zum Beispiel die Möglichkeit, Grundrechte oder - europaweit - Verletzungen von Menschenrechten einzuklagen. Verfassungsgerichtbarkeit als demokratische Bremse auch zum Schutze der Richter war in der DDR nicht möglich.

Aus den Aufarbeitungsgruppen kommt der Zweifel, ob die bundesdeutsche Seite überhaupt daran interessiert ist, ein Land zu übernehmen, das mit sich ins Reine gekommen ist, oder ob dem Bundesjustizministerium nicht vielmehr daran liegt, die Entschädigungskosten möglichst gering zu halten.

Ich glaube, jeder progressiv denkende Mensch - und so schätze ich viele Menschen in der Bundesrepublik ein - ist an einer Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert. Jetzt muß gemeinsam darüber nachgedacht werden, wie Entschädigungen finanziert werden, denn sie müssen für den Finanzhaushalt des Landes tragbar sein.

Die Opfer werden rehabilitiert, und was geschieht mit den Tätern?

Diese Menschen haben in einem bestimmten restriktiven System agiert. Es ist etwas anderes, wenn eine staatliche Ordnung so aufgebaut ist, daß legitime demokratische Rechte ganz normal ausgeübt werden können, auch für den, der Verantwortung trägt, oder ob jemand unter einem restriktiven System arbeitet. In der Geschichtsaufarbeitung muß auch das Verhältnis von individuellen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Zwängen ausgelotet werden, um konkret auch Verantwortlichkeiten für grobe Verstöße festlegen zu können. Doch solche Vorwürfe dürfen nicht auf Gerüchten gründen, sondern müssen objektivierbar sein. Wer sich strafbar gemacht hat, zum Beispiel als Richter durch Rechtsbeugung, muß belangt werden.

Was geschieht mit Menschen, die nach 1945 von den Alliierten inhaftiert, interniert oder anders in Gewahrsam genommen wurden?

Wir können Rechtsakte und Urteile ausländischer Staaten nicht außer Kraft setzen, weil das gegen unsere Hoheitsrechte verstößt. Deshalb werden diese Menschen, was das Verfahren betrifft, analog der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung behandelt. Sie werden differenziert entschädigt.

Interview: Irina Grabowski