Havel, der Präsident

Istvan Eörsi über die real-groteske Situation in der sich Vaclav Havel bewegt  ■ K U R Z E S S A Y

Wie aus Prag verlautet, sei Havel - entgegen seinen ursprünglichen Absichten - auch nach den Wahlen zur Präsidentschaft bereit. Einen Grund für diesen Entschluß sehe ich darin, daß nur er eine Präsidentschaftskandidatur des von ihm liebevoll verehrten Dubcek verhindern kann. Dubceks Aufstellung würde nämlich die einstige Husak -Opposition in Sozialisten mit kommunistischer Vergangenheit und in Antisozialisten spalten.

Havel wird also durch seine praktische Unentbehrlichkeit praktisch unentbehrlich. Ich vermute allerdings noch einen andern Grund, der sich mit tieferen Bedürfnissen der Seele erklären läßt. Der Schriftsteller hatte Gelegenheit, aus der Dramaturgie grotesker Lebensfakten einen Schritt in das unmittelbare, absurde Dasein zu tun. „Bis zur Sinnlosigkeit und weiter“, würde er frei nach Attila Joszef sagen, wenn er den Dichter gekannt hätte. Das „weiter“ würde auch in seinem Fall die gesellschaftliche Praxis bedeuten. Natürlich ist die verrückte Formalität der Diplomatie, die Macht der schwachsinnigen Protokolle nur die Oberhaut der Absurditäten in der politischen Sphäre.

Havel und ein angesehener Außenminister stehen sich vor der Ehrenkompanie gegenüber. Lange Sekunden vergehen. „Warum reicht er mir nicht endlich die Hand“, denkt Havel, „er ist doch mindestens zehn Jahre älter als ich ...“ Da spürt er, wie ihn ein Leibwächter am Ellenbogen anstößt, und sogleich fällt ihm ein, daß er ja die Hand reichen muß, schließlich ist er Präsident und der andere nur Außenminister. Der Kerl, der ihn jetzt anstieß, hätte ihn noch vor ein paar Monaten, auf Befehl des vorherigen Präsidenten über den Haufen geschossen, und das wissen beide. Eine herrliche Situation! Und der Außenminister, der ihm die Ehre erweist - übrigens einer der besten dieser Innung - hätte aufgrund seiner zweckmäßigen Aufmerksamkeit den jeweils existierenden Mächten gegenüber noch vor einem Jahr kein Wort mit ihm gewechselt, während er jetzt vor Glück, noch dazu ehrlich, strahlt - welch tolle Szene!

Doch noch unwiederstehlicher als die Absurdität der Formen mag ihn anziehen, daß er seine Zeit mit prominenten Persönlichkeiten verbringen kann, die sich bewußt den geistigen und moralischen Anforderungen des Mittelmaßes anpassen wollen. In einem Teil der entwickelten Demokratien formen Psychologen, Meinungsforscher und andere Gelehrte ein ideales - sprich: an einen leuchtenden Dummkopf erinnerndes

-Image für den großen Rollenanwärter; in totalitären Systemen produziert dagegen die Maschinerie selbst - ohne wissenschaftlichen Einsatz, aber mit wissenschaftlicher Präzision - durch negative Auswahl die effektivsten, das heißt aus der Sicht des Machtapparates zuverlässigsten Niemande. Hier wie dort zittert die Bürokratie vor irgendeiner überentwickelten Gestalt, die sich nicht abschütteln läßt, während der Durchschnittsbürger am Bildschirm seinen lächelnden oder gestikulierenden Führer in dem beglückenden Bewußtsein anstarrt, daß er selbst genausogut Präsident sein könnte, wenn er redegewandter, ehrgeiziger oder begnadeter wäre.

Mir war einmal vergönnt, im Ratssaal eines Ortes bei Stuttgart auf dem Podium neben dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Lothar Spät zu sitzen. Der Politiker bezeichnete sich damals als Machttechniker, womit er die Funktion seines Amtes meinte. Ich muß mich schütteln vor dem Gedanken, wie sehr wohl die ständige Gesellschaft der Machttechniker den für grotesken Lebensstoff so empfänglichen Havel amüsiert. Ein Machttechniker kann - so läßt der Begriff schlußfolgern - seine Ziele, Ansichten und Methoden ganz nach Bedarf wechseln, um die Macht zu erobern beziehungsweise zu wahren. Ein solcher Mensch sagt nicht, was er denkt, sondern wovon er denkt, daß er es denken sollte, und später beherrscht er sogar den Trick, die eigenen Gedanken nach den eigenen Worten zu richten. Wie herzerquickend muß es in einer solchen Gesellschaft sein, auszusprechen, was einem am Herzen liegt oder was logisch, was richtig scheint.

Havel kann jetzt mit seiner bloßen Existenz beweisen, was ihm auf dem Schriftwege nur indirekt und für ein kleineres Publikum möglich wäre; daß im heutigen, in den Grundfesten bedrohten Zustand der Welt Politik nicht Politikern anvertraut werden dürfte. Doch diese glänzende Unterhaltung findet - wie viele grotesk komische Experimente der modernen Kunst - in einer tragischen Sphäre statt. Havels himmelschreiendes Anderssein, das eben durch die Kraft der Ausnahme wirkt, kann die Machttechniker nicht in den Hintergrund drängen; aber es kann ihren kläglichen Platz anweisen, und das rechtfertigt bereits seine Entscheidung.

Ich stelle mir Havel vor, wie er - nach eigenem Bekunden mit dem Roller durch die endlosen Gänge des Hradschin saust, um die Staatsgeschäfte schneller erledigen zu können. Die Sicherheitsbeamten folgen ihm im Laufschritt, da Rollern offensichtlich unter ihrer Würde ist. Sie rennen dem Dramatiker auf dem Korridor des kafkaesken Schlosses nach, nun allerdings nicht mehr allein, sondern hinzu kommt die Gilde der Politiker: Minister, Parteichefs, Staatspräsidenten. Dieser Korridor ist bekanntlich unendlich und der Rollernde hört das Hecheln des ihm nacheilenden Riesenrudels. Glück übermannt ihn - er wird wieder verfolgt, ist also ein freier Mensch. Denn von Kafka hat er gelernt, daß die Freiheit demjenigen gehört, der gejagt wird: Er kann nämlich an jeder Kreuzung wählen, ob er sich nach links oder nach rechts davonmacht. Seine armen Verolger müssen ihm völlig alternativlos nachsetzen. Verehrter Kollgege, ich wünsche Ihnen weiterhin siegreiches Rollern!

Istvan Eörsi

Der Autor saß jahrelang wegen seiner Beteiligung am ungarischen Aufstand 1956 im Knast, war autorisierter Lukacs -Übersetzer und einer der Begründer der demokratischen Opposition des Landes.