Wer zu spät kommt...

■ Kanzler Kohl in der Tempo-Falle

Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst vom „Tempo der Vereinigung“. Verantwortlich dafür wird der Bundeskanzler gemacht - ausgerechnet Kohl, berühmt geworden durch die statische Kunst bedingungslosen Aussitzens, steht jetzt als Vaterlands-Forcierer da, als Tempomacher und Vereinigungs-Raser. Jahrelang als träge Masse verlacht, wirft man ihm, dem Meister der hohlen Denkungsart, jetzt vor, daß er mit Riesenschritten von der Birne zum Bismarck promoviert und dabei vergißt, daß es sich nicht um seine „Privatsache“ (H. J. Vogel) handelt.

Ein Vorwurf, der in hohem Maße ungerecht ist: schließlich haben wir jetzt fast schon Ende Mai, die Öffnung der Mauer datiert von Anfang November, mithin ist weit über ein halbes Jahr vergangen und passiert ist - nichts. Gut, es gab Wahlen in der DDR, vorgestern wurde verkündet, daß die schikanöse Paßkontrolle des Bundesgrenzschutzes an der Zonengrenze aufgehoben wird, täglich kommen derzeit immer noch 300 Übersiedler und in der DDR gibts taz und Spiegel - aber ansonsten? Die Probleme werden ausgesessen wie zuvor, von überhitztem Tempo keine Spur: Bis vor wenigen Tagen verweigerte Kohl gesamtdeutsche Wahlen im Dezember.

Man stelle sich das vor: ein halbes Jahr weiterhin Unsicherheit, wie soll die Nation in Urlaub fahren, ohne zu wissen, wie es um „Deutschland“ steht, wie Entspannung und Erholung finden, wenn nicht vorher gesamtdeutsch alles geregelt ist? Jeder Wessi war doch zwischenzeitlich mal drüben und hat gesehen, wie abgefuckt und marode, wie deprimierend und versypht das alles... Die Hungerbäuche der Sahel-Zone sind geradeweg nichts gegen das Elend in der DDR, Äthiopien oder Kalkutta ein läppisches Thema verglichen mit den „drängenden Fragen“ (Finanzminister Waigel) der Wirtschafts- und Sozialunion - Kohl wirkt in diesem nach Handlungsbedarf brüllenden Notstand eher wie eine Mutter Theresa im Hamsterrad denn wie ein dynamischer Manager. Über ein halbes Jahr ließ er sich Zeit für einen Staatsvertrag, der gerade mal den allerersten Schritt aus dem tiefen Dilemma der deutsch-deutschen Katastrophe bedeutet. Und ebenso schleppend geht es weiter: Sechs Wochen noch soll es bis zur Währungsunion, über sechs Monate bis zur Wahl dauern - Monate in denen das Wahlvolk wie Stimmvieh behandelt wird. Es hat vor ein paar Jahren mal gemuht und wird dann einfach nicht mehr gefragt. In der Bundesrepublik hätten am 10. November 1989 Neuwahlen ausgerufen werden müssen - dies ist die Falle, in der der Kanzler sitzt, ihr kann er mit noch so viel vorgezogener Wahlhektik nicht mehr entkommen. Spötter, die Helmut Kohl von Anfang an als abgestandenen Witz betrachteten, werden umdenken müssen: Für den Rest seiner Amtszeit muß er jetzt als running gag gelten.

Mathias Bröckers