Die Kunst der einfachen Ruhe

■ Fasziniert vom High-Tech des spontanen Nickerchens und dem afrikanischen Flair des Boucarabou-Hotels erholt sich Mathias Bröckers in Gambia von der europäischen Hig-Tech-Langeweile

Die Kunst

der einfachen Ruhe

Fasziniert vom High-Tech des spontanen Nickerchens und dem afrikanischen Flair des Boucarabou-Hotels erholt sich

MATHIAS BRÖCKERS in Gambia von der europäischen High-Tech -Langeweile.

ams, Mams“, ruft ein Junge durch ein vergittertes Fenster, als wir an einer Polizeistation in Banjul, der Hauptstadt Gambias, vorbeigehen. Er ruft nach unserem Begleiter, Mams, dem Chefbuchhalter des „Boucarabou„-Hotels, mit dem wir in „Amtsgeschäften“ unterwegs sind: Das Visum eines Hotelgasts muß auf dem Immigration-Office verlängert werden, bei „Gamtel“ eine Lizenz für den Betrieb von Walkie-Talkies beantragt und auf der Bank über einen Kredit für den Ausbau des Hotels gesprochen werden. Im Hauptberuf ist Mams Vizedirektor des gambischen Bundesrechnungshofs und deshalb für den „Ämterkram“ des Boucarabou-Hotels bestens geeignet daß er auf den Nebenjob im Hotel angewiesen ist, liegt nicht nur an den 300 Mark pro Monat, die er als Spitzenbeamter verdient, sondern auch an seiner Herkunft: Bevor er mit einem Stipendium in den USA studierte war er ein Wolof-Junge aus dem Wellblech-Kiez von Banjul, ein Bürschchen wie der kleine Eierdieb, der jetzt nach ihm ruft. Mams drückt ihm ein bißchen Geld in die Hand und ruft einige erklärende Worte durch's Fenster, doch im Inneren der Polizeistation rührt sich nichts. Zwar sind sechs Amtspersonen anwesend, doch zwei schlafen, den Kopf in der Armbeuge, auf dem Tresen, zwei andere schnarchen in derselben Haltung, die Dienstmütze nur leicht verschoben, an ihren Schreibtischen, ein weiterer hängt, den Kopf schon schwer auf die Hand gestützt aber noch offenen Auges, über einem Formular. Eine Politesse, offenbar für die Überwachung des Delinquenten zuständig, kaut versunken an einem Holzstengel, der lokalen Zahnbürste, sie reagiert weder auf den Zuruf noch auf die Geldübergabe, ihr Blick fixiert die blau gestrichene Wand gegenüber. Ich wage nicht, diese wohl sympathischste Polizeistation der Welt zu fotografieren, nicht nur, weil die Kamera vielleicht den Argwohn der Exekutiv-Beamtin erregt hätte, sondern vor allem, weil das unsanft touristische Surren und Klicken die fünf abwesenden Polizisten bei der Ausübung ihrer höchsten Kunst stören würde: der vom gesamten gambischen Volk kultivierten Fähigkeit, jederzeit und an jeder Stelle in Schlaf zu verfallen. Die für europäische HektikerInnen geradezu genial anmutende High-Tech des spontanen Nickerchens läßt sich in Gambia an allen Ecken und Enden beobachten, sei es mitten auf dem quirligen Marktplatz neben einem Haufen Fischabfällen, unter einer leeren Schüssel als Sonnenhut, oder an einer der verkehrsreichsten Kreuzungen des Landes, wo ein Bautrupp werkelt. Einer schlägt den Pickel, drei Mann geben auf dem Boden hockend gute Ratschläge, ein vierter liegt in verquerer Embryo-Haltung in der Schubkarre, wie ein Artist in der Zirkuskuppel - schlafend.

ußer Sklaven war in der Mündungsregion und an den Ufern des Gambia River für die englischen Kolonisatoren nicht viel zu holen, weder Elfenbein, noch Gold oder Bodenschätze waren auszubeuten, heute bildet eine Erdnuß-Rösterei den größte Industriebetrieb des seit 26 Jahren unabhängigen Mini -Staates (800.000 Einwohner) an der westafrikanischen Küste. Peanuts sind neben getrocknetem Fisch der einzige Exportartikel Gambias, das sich als reines Agrarland mit den meisten landwirtschaftlichen Produkten selbst versorgt. Größere Importe sind nur für das halbe Dutzend Hotels nötig, die mit trockenem Tropenklima, herrlichem Sandstrand, Steak, Pommes-Frites und Tuborg-Bier sowie Bingo am Pool vor allem englische, deutsche und skandinavische Touristen nach Gambia locken. Trotz tropischer Gärten, exotische Fruchtsalate und schwarzen Personals stellen diese Hotels exterritoriale Zonen dar, vollklimatisierte Afrika-Fälschungen, die mit dem Land und seiner Kultur soviel gemein haben wie Dornröschen mit Knüppel aus dem Sack: Die einzigen Menschen, die ich in Gambia habe rennen sehen, waren schwarze Fitness-Trainer, die rot gebrannte Weiße über den Strand des „Senegambia„ -Hotels scheuchten. Vor diesem Hotel, dessen Name an die mittlerweile gekündigte Konföderation Gambias mit dem großem Nachbarn Senegal erinnert, endet die geteerte Küstenstraße und eine Version des Afrika-Tourismus, dessen Statistik für sich selbst spricht: 80 Prozent der Urlauber, die hier absteigen, sind mit Sonne, Meer und Vollpension zufrieden, sie verlassen während ihres Aufenthalts kein einziges Mal das Hotel.

er im Winter eine garantiert sonnensichere Grillstation und sauberen Bounty-Strand sucht, ist in Häusern wie dem „Senegambia“ sicher gut aufgehoben; Reisende, die darüber hinaus Interesse für Afrika und seine Kultur mitbringen, sollten freilich noch zwei Kilometer Sandpiste durch die Savanne auf sich nehmen: 20 Fußminuten (gemessen im gemächlichen gambischen Schlurf) von der Beach-Region entfernt, am Südrand des Dorfes Kerr Serring, liegt auf einem 20.000 qm großen Gelände das Boucarabou-Hotel, das im März 1987 unter Anteilnahme des gesamten Dorfs und mit dem Segen des örtlichen Imam eingeweiht wurde. Das von einer Berliner Kooperative für afrikanische Kultur initiierte Hotelprojekt mit einer angeschloßenen Musikschule, das mit privatem Geld und in enger Zusammenarbeit mit gambischen Musikern entstand, bietet derzeit 26 Gästen Platz - und die Möglichkeit, ein Maximum Afrika zu erleben ohne auf ein Minimum europäischen Komforts zu verzichten.

as Bauweise und Einrichtung, aber auch was die Küche und den gesamten familiären Betrieb betrifft geht das Boucarabou den Weg der größtmöglichen Anpassung an örtliche Ressourcen und Gegebenheiten. Von außen sind die grasgedeckten Flachbauten nicht von einem ortsüblichen „compound“ zu unterscheiden, und auch drinnen geht es, abgesehen von der nach lokalem Standard übermäßigen Zahl an Duschen und Toiletten und den Solarkollektoren, die in den von stinkenden Diesel -Generatoren (oder Kerosin) beleuchteten ländlichen Regionen die große Ausnahme sind, ausgesprochen afrikanisch zu: Die Zimmer sind mit Naturmaterialien eingerichtet, Obst und Gemüse kommen aus dem eigenen Garten oder werden, wie Fisch und Fleisch, täglich auf dem Markt geholt. Im Unterschied zu den großen Strandburgen, die während der Regenzeit von Mai bis Oktober geschloßen haben, ist das Boucarabou-Hotel ganzjährig geöffnet, was für das Personal den Vorteil hat, nicht regelmäßig Ende April gefeuert zu werden. Fast alle Angestellten kommen aus dem benachbarten Dorf, sind bekannt, verwandt oder verschwägert und gehen, wenn gerade mal nichts zu tun ist, ihrer Lieblingsbeschäftigung nach. Nach einer Viertelstunde Tischtennis kullert der Ball in eine Ecke des Raums und dort liegt zusammengerollt Serifo. Eigentlich soll er mit seinem Bruder Pa die Bar schmeißen, doch hat er offenbar ein 16-Uhr-Nickerchen vorgezogen. Wer sich nicht einmal durch lautstarkes Pingpong aus der Ruhe bringen läßt, hat seinen Schlaf allemal verdient - die sanften Touristen schleichen auf Zehenspitzen hinaus...

enn es über das Zirpen der Savanne hinaus laut wird im Boucarabou, sitzen die Gäste zwar abseits von Straßen, Telefon und Medien aber in der allerersten Reihe: außer einem in die örtliche Lebensweise integrierten Betrieb hat sich das Boucarabou vor allem der westafrikanischen Musik verschrieben, Besuche und Auftritte von gambischen Musikern sind an der Tagesordnung. So geographisch begrenzt der Raum Gambia ist, so viele Völker und Stämme, mit unterschiedlichen Sprachen und Gebräuchen, mischen sich hier. Völker, für die mangels Literatur die Musik ein ganz besonderes Medium darstellt - „Wenn ein alter Mann stirbt, brennt eine Bibliothek“, auf niemanden trifft dieser Satz besser zu als auf die Griots in Afrika, in deren epischen Gesängen die Geschichte und die Mythen dieser schriftlosen Völker bewahrt werden. Diese tönenden Geschichtsbücher vererben ihr Wissen jeweils nur an die eigenen Kinder - im Hotel gibt es Gelegenheit, gleich zwei Generationen am Werk zu sehen und kennen zu lernen: Malamini Jobarteh, den berühmtesten Griot Gambias, der den 21 Saiten seiner Kora meditative, harfenähnliche Klänge entlockt, und seinen Sohn Ibrahima, der den Kürbis-Klangkörper des Instruments mit einem Tonabnehmer bestückt hat und, verstärkt Jimmy-Hendrix -artig, mit einem beinharten Trommler-Quartett als „Tata Din Din & his Comittee“ auftritt. Für die traditionellen Musiker Gambias sind Auftritte im Boucarabou-Hotel zur festen Einrichtung geworden - nicht nur, weil der Schmalz begeisterter Gäste ein willkommenes Kultur-Sponsering darstellt, sondern auch, weil dieser Ort seinen Namen zum Programm gemacht hat. Das Hotel ist nach der dreiteiligen Baß-Trommel „Boucarabou“ benannt, zu der die Frauen des Djohla-Volks ihren rasend schnellen „Ventilateur“ tanzen. Nicht selten kommt es vor, daß im Gefolge der MusikerInnen Kinder dabei sind - während die Trommler den Knüppel aus dem Sack lassen und den Beat schlagen, der diesen Kontinent alphabetisiert hat, liegen sie daneben und üben sich früh, um einst ein Dornröschen zu werden: Sie schlafen ein.

en Markt in Serrekunda, der nahe gelegenen Stadt, beherrschen wie überall in Gambia die Frauen. Daß sie eigenes Geld haben stärkt ihre Stellung und ist einer der Gründe, warum der Islam in Gambia in einer, verglichen mit arabischen Ländern, äußerst gemäßigten Form praktiziert wird. Viele Frauen akzeptieren es zum Beispiel nicht mehr, daß sich ihr Mann eine Zweitfrau nimmt, in diesem Fall versuchen sie alleine klar zu kommen und ihr eigenes Einkommen sorgt dafür, daß dies mehr als nur eine leere Drohung bleibt. Neben Sonderprogrammen mit musikalischen Workshops und Rundreisen in die benachbarten Länder Senegal und Guinea-Bissau veranstaltet das Boucarabou-Hotel auch spezielle Frauenreisen, die mit Vorträgen, Treffen und Exkursionen einen Einblick in die Situation der westafrikanischen Frauen ermöglichen. Dazu gehören etwa der Besuch einer selbstverwalteten landwirtschaftlichen Frauen -Kooperative, einer Mutter-Kind-Station und, natürlich, des „Frauenstammtischs“ in Kerr Serring. Awa, Chefin der ausgezeichneten Boucarabou-Küche und Mutter von drei Kindern, leitet das Frauenprogramm. Auf meine Frage, was denn das größte Problem der afrikanischen Frauen sei, zögert sie nicht lange: „You can not trust an african man.“ Was das Vertrauensverhältnis so stört und, wie Schulbildung, Medien und europäische Einflüsse, die Lage der Frauen verändert, wird in den Gesprächen und Diskussionen dieser Spezialreise erörtetert - die afrikanischen Männer ihrerseits sind sich keiner Schuld bewußt. Als wir in Banjul unsere Behördengänge mit Mams erledigt haben, führt er uns durch die staubigen Wege im Wellblech-Kiez der Hauptstadt zum Haus seiner Mutter. Als wir um eine Ecke biegen, ruft ihm eine Frau etwas zu, Mams grinst über beide Backen und antwortet ihr ohbwohl der Dialog in der Wolof-Sprache stattfindet, lassen Ton und Gesichtsausdrücke der Beteiligten auf Anzüglichkeiten schließen. „Was hat sie gesagt“, wollen wir wissen. „Sie hat gesagt: Hey Alter, schieb mal ein paar Scheine rüber, du weißt doch, ich hab dich damals entjungfert“, übersetzt er. „Und, stimmt das?“ Mams grinst erneut: „Naja, als kleine Jungs haben wir 'ne Menge Honky -Tonky-Zeug getrieben.“

as das Honky-Tonky mit europäischen Reisenden betrifft ist Gambia vom Nepp- und Nutten-Tourismus ostafrikanischer oder asiatischer Prägung verschont geblieben - daß das kleine Land statt großartiger Naturlandschaften nur urtümliche Savanne, statt Heya Safari und Großwildabenteuer nur Gelassenheit und alltägliche „cool runnings“ bietet, erweist sich als Vorteil: Zwar sind Händler und Schlepper allgegenwärtig, in professioneller Penetranz und Lästigkeit ihren Kollegen an den durchtourisierten Küsten Afrikas aber weit unterlegen. Das Touristen-Melken wird in Gambia noch als lockeres Spiel und nicht mit kriminellem Ernst betrieben. Kriminell wirken da eher die Europäerinnen, deren einziger Kultur-Import darin besteht, am Strand Brust zu zeigen und sich allen Ernstes darüber zu wundern, daß ihnen Beach-Boys, Händler und Spanner keine ruhige Minute lassen. Wer sich allerdings an die Bekleidungsregeln und den offenen, freundlichen Umgangston hält und darüber hinaus noch über einen Grundwortschatz von 200 Worten Englisch verfügt, wird in Gambia das genaue Gegenteil von Nerverei entdecken: entspannte Langsamkeit und die hohe Kunst der einfachen Ruhe. Eine Kultur, von der das Europa der High -Tech-Langeweile mehr lernen muß, als es sich derzeit träumen läßt.

Boucarabou-Hotel, Kerr Serring, P.O. Box 2491 Serekunda, The Gambia. Buchungen über: Cool Running Tours, Gneisenaustr.2, 1000 Berlin 61, Tel: 030/693 73 17.

Zwei Wochen Flug und Halbpension ab 2.450 DM. Sonderprogramme, z.T. als Bildungsurlaub anerkannt, auf Anfrage. Die Boucarabou-Crew ist sich im Klaren, daß sanfter Tourismus mit dem Flugzeug so absurd ist wie ein Fisch auf dem Fahrad. Reisenden, die den Weg von Deutschland nachweislich zu Fuß oder per Rad zurückgelegt haben, wird deshalb nach Voranmeldung 14 Tage kostenloser Aufenthalt gewährt.