„Früher hatte der 1. Mai mehr Niveau“

In der DDR gab es nämlich früher immer Erbsensuppe und ein Volksfest / Diesmal wollte keiner mehr arbeiten  ■  Aus Hennigsdorf Petra Bornhöft

Wie früher ärgert sich Horst Burbach (55) auch an diesem 1. Mai über die rostbraune Wolke, die aus dem Stahlwerk Hennigsdorf in den Himmel über Berlins Nordwesten steigt. Horst Burbach ist nämlich „nur bei Regenwetter“ zur Kundgebung am Kampftag der Arbeiterklasse marschiert. Bei Sonnenschein putzte er stets sein Boot, das auch heute an der Havel blitzt.

„Zur Kundgebung?“, erbost richtet der rundliche Mann sich im Camping-Stuhl auf „icke?“, die Stimme hebt sich entrüstet, „nie mehr!“ Warum auch? Jetzt ist vom Ufer aus ja nicht mehr nur die Rostwolke zu sehen - die vorbeiziehende Schlange der Westberliner Motorboote nimmt kein Ende. „Ist das nicht schön?“, zufrieden lächelnd streichelt Burbach seinen Bauch, „zur Kundgebung gehen nur Kommunisten und Doofe“.

Das können in der 30.000-Einwohner-Stadt nicht viele sein. Auf dem steinig-staubigen Platz vor einigen Marktständen mit selbstgemachten Gartenzwergen und Häkel-Pullis verlieren sich hundert bis zweihundert Menschen. Gedränge dagegen vor den sonnenbeschirmten CDU-, SPD- und PDS-Ständen. Viele Einwohner indes tummeln sich in ihren Kleingärten. Warum? „Früher war der 1. Mai anspruchsvoller und hatte Niveau“, trauert ein Berufssoldat vor seiner Laube, „da gab's ein Volksfest mit Erbsensuppe aus der Gulaschkanone. Aber dieses Jahr hat sich der Koch geweigert, am Feiertag zu arbeiten“.

Ein langhaariger SPD-Genosse fordert wiederholt per Megaphon: „Wenn Sie an der Gewerkschaftskundgebung teilnehmen wollen, stellen Sie sich bitte vor dem Blasorchester auf.“ Ähnlich, aber eine Spur schärfer muß es früher geklungen haben, als die Belegschaften der beiden größten Betriebe - das Stahlwerk und die Lokomotivbau -Elektrotechnischen Werke (LEW) - mit ihren jeweils 8.000 Beschäftigten ziemlich geschlossen am 1. Mai antraten. „Wer nicht auf der Strichliste des Chefs stand“, erinnert sich ein Stahlwerker, „bekam Lohnabzug und Minuspunkte bei der Wettbewerbsauswertung.“ Der Weißhaarige will sich die Kundgebung anhören, „weil man ja immer dabei war“.

Die Rede des IG-Metallvorsitzenden aus dem Kreis Oranienburg ist kurz. Das Manuskript beginnt mit dem „Beschluß des Internationalen Arbeiterkongresses in Paris vom 20.7.1889, am 1. Mai 1890 eine Kundgebung durchzuführen, um dem Beschluß zum Acht-Stunden-Tag Ausdruck zu verleihen“. Eine Minute später erreicht der Text die Gegenwart: „Mit den Wahlen vom 18. März wurde die deutsche Vereinigung zur Hauptaufgabe.“ Logisch, mit „Verhinderung“, „Schaf fung“, „Anwendung“ und „Durchsetzung“ von irgendwas und allem wird die Gewerkschaft so beschäftigt sein, daß ihr altgedienter Funktionär keine Silbe mehr verwenden kann auf Internationales - die „solidarischen Grüße für den Arbeitskampf der IG Metall“ dürften eher dem Plansoll Deutschland zuzuschlagen sein.

„Wat soll ick mir den Scheiß anhören“, Horst Burbach zieht das Bier an der Havel vor. Er ist „angesehen“ im Betrieb, könnte auch als Schmelzer arbeiten und nähme „gern die Schippe in die Hand“. Nach einem kurzen Blick auf die Boote, „na ja, gern ist auch zuviel gesagt“. Und überhaupt, „die Gewerkschaft tut doch nüscht, von denen hörste einfach jarnüscht“. Eine in Hennigsdorf weit verbreitete Ansicht LEW-Betriebsgewerkschaftsleiter Karl Heinz Graffenberger (40) versucht dagegen anzureden. Mehrfach klagt er Engagement ein. Aus gutem Grund: Im LEW-Werk erklärten sich von 8.000 Beschäftigen nur zehn zur Gewerkschaftsarbeit bereit. Vier von ihnen mühen sich als Hauptamtliche mit den kombinierten Betriebsrats- und Gewerkschaftsaufgaben.

Offenbar halten es die meisten wie Horst Burbach: abwarten. Und natürlich Schiffe zählen. Er kann sich nicht sattsehen: „Da kannst Du doch vor Neid erblassen. Was die für Motoren haben! Mit meinem Zwei-Takter schaff ich's bis Oranienburg, dann ist er verrußt, Feierabend.“