■  VEB KLASSIK ODER

GOETHE TRIFFT NINA

Geist und Ungeist von Weimar

Als Goethe 1775 von der Freien Reichsstadt Frankfurt nach Weimar umsiedelte, erwartete ihn ein kleines thüringisches Nest. Zeitgenössische Reisebeschreibungen beklagen das allzu Provinzielle dieser Residenzstadt. „Schrecklich sind die Wohnungen hier, schrecklicher als man es sich vorstellen kann“, so urteilt der Kammerherr und Komponist Siegmund von Seckendorf zur Zeit von Goethes Ankunft über Weimar. Berühmt -berüchtigt war Weimar damals auch für seinen Gestank in den Gassen. Selbst das Rathaus zeichnete sich durch ein eigenes Odeur aus. Eine seiner Arkaden „war mit Fleischerbuden gefüllt, welche oft einen üblen Geruch verursachten“, so informiert uns der Weimarer Chronist Karl von Lyncker.

Weimar, bislang sicher für viele Wessis mehr eine Chiffre denn ein realer Ort, dementsprechend in den Höhen des deutschen Geistes gelegen und nicht weiter zu lokalisieren, ist 90 Kilometer vom Autobahngrenzübergang Herleshausen entfernt, erbaut in einer Talsenke der Thüringer Hügellandschaft zwischen den ebenfalls aus der literaturhistorischen Topographie bekannten Städten Gotha und Jena. Der reale Ort ist nicht nur ein Museumsdorf, sondern auch eine Forschungsstätte der klassischen deutschen Literatur. „VEB Goethe“ heißt hier inoffiziell die riesige „Zentralbibliothek der deutschen Klassik“. Eine Architektur und eine Musikhochschule sorgen sich um heutige Kulturproduktion. Überall in der verwinkelten Innenstadt, aber auch außerhalb in dem einsamen Schloß Belvedere hört man die StudentInnen proben, klassische Musik am klassischen Ort. Das einzige Hochhaus des Städtchens bietet in elf Stockwerken Platz für die Studierenden. An den Rändern auch in Weimar Industrie - Baustoffe, Möbel, Landmaschinen, Elektrogeräte werden hier produziert. Bei ungünstiger Wetterlage senkt sich der Smog ins Tal und verbindet sich mit dem über ganz Weimar schwebenden Geruch von Thüringer Bratwürsten. Synonym für Klassik

Seinen Weltruf verdankt die Kleinstadt der Tatsache, daß Goethe sich von den zahlreichen Ausdünstungen des Ortes nicht abschrecken ließ, sondern nach einigen Monaten Aufenthalt in Weimar bekennt: „Ich richte mich hier ins Leben und das Leben in mich.“

Und so ist der Name Weimar zum Synonym geworden für Klassik, für Goethe-&-Schiller-Productions, aber auch für die erste deutsche Republik - im Weimarer Theater wurde fernab vom straßenkämpferischen Berlin die Nationalversammlung einberufen. In der Eröffnungsrede im Februar 1919 hofft Friedrich Ebert darauf, daß der „Geist von Weimar“ nun unser Leben erfülle.

Doch wer heute diesen Geist zitiert, schließt meist ein Gespenst aus, schließt einen Weimar eingemeindeten Ort aus: den Ettersberg, einen der bevorzugten Ausflugsorte unserer Klassiker. Hier wurde 1937 das Konzentrationslager Buchenwald errichtet. Ungefähr 60.000 Menschen fraß hier die Todesmaschinerie, wenige Kilometer vom Zentrum Weimars entfernt. Und auch an dieser Stelle gab es nach 1945 ein sowjetisches Internierungslager. Ginge heute Goethe hier im Walde so für sich hin, fände er nicht nur Versteinerungen aus erdgeschichtlicher Frühzeit...

Und selbst hier, im kahlen Gelände der heutigen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“, findet sich eine Spur von Gedenken an Goethe - die schaurigste von allen Goethe -Memprabilien. Ein zementierter Baumstumpf in der Nähe der ehemaligen Effektenkammer des KZs zeugt von seiner früheren Existenz als Goethe-Eiche, die von den Häftlingen abgesägt werden mußte.

Wer Weimar denkt, denkt nicht Buchenwald - die Abspaltung funktioniert und zeigt sich zum Beispiel auch im Prospekt der Interhotels, die Weimar als „Inbegriff humanistischer Kultur und Kunst“ preisen.

Dieser Inbegriff wird dieses Jahr, so vermutet das Fremdenverkehrsamt, etwa 4,5 Millionen Touristen anlocken. Vier Hotels und um die 250 Privatquartiere sind bereit. Für die meisten der BesucherInnen wird nicht nur Buchenwald als Schattenseite Weimars neu sein, sondern überrascht werden sie auch davon sein, wie viele andere außer Goethe und Schiller hier gewirkt haben. Luther predigte in Weimar, Lucas Cranach d. Ä. verbrachte die letzten Monate seines Lebens hier, Johann Sebastian Bach gab sich die Ehre als Hoforganist und Hofkapellmeister (von 1708 bis 1717). An produktive Zeitgenossen Goethes erinnern etliche Schrifttafeln und sonstige Gedenkstätten - die Herderkirche, das Wielandmuseum. Im letzten Jahrhundert arbeiteten hier Franz Liszt und Richard Strauss. Die Moderne hielt Einzug mit van de Veldes Kunstgewerbeschule und Gropius‘ Gründung des Bauhauses in Weimar (1919 bis 1925). Classics GmbH

Wenn es Nacht wird in Weimar und die Gedenktafeln sich nicht mehr entziffern lassen, begegnet einem kaum noch jemand auf der Straße. Die spärliche Straßenbeleuchtung blendet immer mehr die Relikte des Geistes von Weimar aus. Die Beschreibungen der Stadt aus dem 18. Jahrhundert drängen sich zunächst auf. Das Schloß an der Ilm ragt düster in die Nacht, doch jäh wird man wieder in die Gegenwart versetzt, nähert man sich dem Marktplatz mit dem alten Hotel „Elephant“, Hauptaustragungsort von Thomas Manns Lotte in Weimar. Heute abend jedoch keine Lotte hier, sondern der Platz vollgeparkt mit westdeutschen Wagen, denen man ansieht, was die Zimmer hier kosten.

Gegenwart und damit die Ansätze der Umwandlung des „VEB Klassik“ in eine Classics GmbH zeigt sich auch an er materiellen Basis des Weimarer Geistes: Die Stände mit West -Bier sind tagsüber umringt. Die Hochglanz-Tchibo-Reklame fällt überall auf. Jemand hat trotz Eiseskälte ein paar Tische vor ein Lokal gestellt. Eine dröhnende Lautsprecherbox auf dem Bürgersteig soll zusätzlich Gäste anlocken. Die Schaufenster des „Kontaktmarktes“ am Theaterplatz, einer Filiale der Rewe-Kette, finden mehr Beachtung als die benachbarte Goethe-Schiller-Statue. Die Großbaustelle des künftigen Luxushotels „Belvedere“, postmodern mit 500 Betten geplant, läßt erahnen, welche einschneidenden Veränderungen Weimar demnächst erfahren wird: ein teures Goethe-Schiller-Disneyland?

Doch neben dieser beginnenden Vermarktung macht sich noch wohltuend der bescheidene Goethe-und-Schiller -Devotionalienhandel aus. Und noch machen die AufseherInnen in den zahlreichen Gedenkstätten eine Mittagspause und registrieren mit freundlichem Stöhnen den neuen Andrang. Und noch können die BesucherInnen fast ohne Einschränkungen durch die heiligen Hallen wandeln. Doch je mehr respektlose Touristen glauben, sich mal auf einen Stuhl von Goethe, auf das Bett von Christiane Vulpius setzen oder auf einem Divan sich räkeln zu müssen, desto weniger kommt west-östliche Freude auf. Vermutlich wird daraus folgen, daß in naher Zukunft nur ein schmaler Gang in den Zimmern freigegeben wird.

Wenn man will, läßt sich also in den Enklaven der Museen dem vielzitierten Geist der Klassik nachspüren, zumindest noch bevor die erste geführte Gruppe auftaucht. Und die Nacht ist auch nicht so trübe, wie es zunächst den Anschein hat. So beginnt an einem Abend im April um 22 Uhr noch eine Veranstaltung im Weimarer Nationaltheater. „Ich habe schon viel in meinem Leben erlebt, aber daß ich so spät anfange zu lesen, das ist auch für mich etwas Neues“ - so leitet der Rhetorikprofessor aus Tübingen Walter Jens im Foyer des Theaters eine kommentierte Lesung von Texten Tucholskys ein. Jens betont Tucholskys Enttäuschung über das Scheitern der Novemberrevolution 1918 und zieht die Parallele zur gegenwärtigen Befindlichkeit der DDR. Auch Tucholskys emphatischen Angriff gegen jede Art von Provinzialismus wird hier aktualisiert, und Goethes Konzept der Weltliteratur, das Enge, Nationale, Kleinstädtische übergreifend, wird auch für Jens zum programmatischen Mittel gegen gegenwärtig allgegenwärtige Kleinkariertheiten. Auch sonst zeigen sich in Weimar Verbindungen von früher und heute: „Goethe trifft Nina“ - so der Name einer Galerie, die gerade eine Fotodokumentation Das alte Weimar ausstellt. Hier in dem Haus am Burgplatz zog Goethe in seinen Weimarer Anfangsjahren kurz ein, und in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts hat Nina Hagen höchstpersönlich diese Räume bewohnt. Die Galerie hat sich mit anderen noch bis vor kurzem vom Stasi argwöhnisch beobachteten Einrichtungen wie der Galerie Schwamm - der Name sagt schon einiges über die Bausubstanz der betreffenden Gebäude - zum „AutonomenCulturCentrum“ zusammengeschlossen. Das ACC bietet zum Beispiel Jazzsessions und Vorträge über Fellini, Anthroposophie und das Bauhaus an und gibt eine Kulturfahrplan heraus, die Kulturmeile '90 mit einer Beschreibung eines nicht nur klassischen Rundwegs durch die Innenstadt. Hier werden die Eingriffe der nationalsozialistischen Wahnarchitekten aufgelistet, die Geschichte der größten Ruine der Stadt, des ehemaligen Landesmuseums, wird aufgerollt, erzählt wird, wie der Märchensammler Musäus sein Dasein fristete... - Gegenbilder zu dem, was Goethe einige Monate nach seiner Ankunft in Weimar feststellt: „Meine Lage ist vorteilhaft genug und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde.“

Solvejg Müller