Was wird aus Nicaraguas Avantgarde-Partei?

Der Gang in die Opposition gibt der FSLN die Chance zur inneren Demokratisierung  ■ D E B A T T E

„Unser Volk ist Herr seiner Geschichte, Architekt seiner Befreiung“, heißt es in der Revolutionshymne der Sandinisten. Nun hat der Herr (oder die Herrin) über die Geschichte an den Wahlurnen entschieden, daß jetzt die Befreiung vom US- amerikanischen Wirtschaftsboykott ansteht

-und nicht die von der Revolutionspartei gemeinte nationale und soziale Befreiung von den Nordamerikanern und ihren Sympathisanten in Nicaragua.

Sowenig die 48 Prozent DDR-BürgerInnen, die sich am 18. März Allianz-versichert haben, gegen ihre Interessen gehandelt haben - sowenig läßt sich denjenigen NicaraguanerInnen, die dafür gesorgt haben, daß die konservative Violeta Chamorro morgen die Präsidentenschärpe umlegen kann, Dummheit oder mangelnder Weitblick vorwerfen, wie das manche Kommentatoren - auch in der taz - getan haben. Geirrt hat sich doch wohl erst einmal die FSLN, die meinte, sie bräuchte der oppositionellen Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht nur jubelnde Massen und die Parole „Alles wird besser“ entgegenzusetzen.

Sie und die „Massenorganisationen“ haben im Eifer ihres Wahlkampfes nach nordamerikanischem Konfettistil vergessen, dem Volk aufs Maul zu schauen. Bis zum Wahlsonntag waren sie hundertprozentig vom Sieg überzeugt, weil sie nicht mitbekamen, daß die T-Shirts mit dem Konterfei Ortegas zwar das Straßenbild beherrschten, daß die Mehrheit sich aber entschlossen hatte, im Wahlkampf zu schweigen - und dann mit Nein zu stimmen. Ihre Strategie auf der vermuteten Unmündigkeit des Volkes aufzubauen, ist eine ebenso alte wie verhängnisvolle Angewohnheit der Linken, übrigens nicht nur in Lateinamerika. Die FSLN ist nicht die erste Avantgardepartei, die daran schließlich scheitert. (In Lateinamerika ist sie vermutlich, es fehlt noch Kubas KP, die vorletzte.)

Die Linke auf diesem Kontinent bietet generell ein düsteres Bild: Nirgendwo ist es ihr gelungen, dem gegenwärtigen Siegeszug des Neoliberalismus mehr als nur Appelle entgegenzusetzen (in Chile tut sie nicht einmal das und wartet erst einmal darauf, daß die Christdemokratie den „Aufschwung“ schafft). Vor allem leidet die Linke in den meisten Ländern unter galoppierendem Verlust an Glaubwürdigkeit. Ob es die Endkampf-Appelle der Guerilla in El Salvador während der letzten Offensive sind oder das Hickhack in der gespaltenen peruanischen Linken: Die Hinwendung gerade auch der armen Bevölkerungsmehrheit zu rechten Identifikationsfiguren (dem TV-Boß Collor de Mello in Brasilien oder dem bis vor kurzem unbekannten japanisch -stämmigen Fujimori in Peru) zeigt, daß mit Parteien vor allem Korruption, uneingelöste Versprechen und realitätsferne Intellektualität verbunden werden.

Am Ende sind nicht zuletzt Avantgardekonzept und leninistische Organisationsstruktur. Die sowjetische Perestroika und ihre Folgen in Ost- und Mitteleuropa haben ihnen den letzten Boden unter den Füßen weggezogen. Immer weniger Menschen glauben daran, daß es zur zentralistischen Organisation einer Linken keine Alternative gibt, kaum jemand will noch darauf vertrauen, daß Strukturen, die der Guerilla und der Klandestinität entstammen, auf Dauer zum ersehnten Ziel einer neuen Gesellschaft führen können. Nicaraguas FSLN hat ihre Struktur seit dem Kampf gegen die Somoza-Diktatur bis heute fortgeschrieben, seit elf Jahren werden alle Entscheidungen im hermetisch abgeschirmten Kreis derselben neun comandantes getroffen, die „Massenorganisationen“, von Gewerkschaften über Jugend bis zu den Frauen, waren selten mehr als Transmissionsriemen der Partei.

Immer wieder rechtfertigten Zwänge die autoritäre Struktur, an erster Stelle der Krieg - die Einheit geht vor, zu jener Zeit war das tatsächlich mehr als nur ein Propagandaargument. Gerade nach der Erfahrung von Grenada, wo die Spaltung der Revolutionspartei der US-Invasion eine Bresche geschlagen hatte, waren auch die gegängelten Sandinisten an der Basis stolz auf ihre Führung, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt, und die schließlich auch die Contra militärisch in die Knie zwang.

Spätestens im Januar 1988 aber war die autoritäre Guerilla -Struktur obsolet geworden, als der Waffenstillstand mit der Contra in Kraft trat. Dennoch stand seitdem der (von außen erzwungenen) Einführung bürgerlich-demokratischer Politikformen keine innere Demokratisierung der Staatspartei und ihrer Anhängsel gegenüber. Von Dissidenten genauso wie von Teilen der Basis gefordert, wurde sie immer wieder der „Einheit“ und den taktischen Erfordernissen - als letztes dem Wahlkampf - geopfert.

So konnten die Basisorganisationen (mit Ausnahme der von Beginn an relativ autonomen Bauernvereinigung) nie eigene Stärke gewinnen. Sie wurden zwar immer „mobilisiert“ - aber nur, um längst getroffene Entscheidungen umzusetzen. Je weniger kontroverse Debatten zugelassen wurden, umso mehr verödeten die Basisstrukturen, und je häufiger ideologische Konflikte mit der Rechtsopposition in Form von zentral gesteuerter Agitation mit vorgestanzten Argumenten - und auch mit repressiven Mitteln - ausgetragen wurde, desto mächtiger wurde - lange Zeit verdeckt von Krieg, rhetorischem Antiimperialismus und der Dominanz staatlicher Institutionen - die Ideologie der Rechten (repräsentiert übrigens nicht durch die Parteien, sondern durch die Zeitung 'La Prensa‘ und die Hierarchie der katholischen Kirche).

Die Wahlniederlage der Sandinisten ist, so gesehen, nicht nur das Ende einer paternalistischen Revolution, sie enthält auch die Chance zum Neuanfang. Die äußeren Bedingungen zumindest sind günstig: Als Staatspartei tritt die FSLN ab, aber gegenüber der zusammengewürfelten 13-Parteien-Koalition von Violeta Chamorro kann sie eine nicht nur numerisch starke Opposition bilden. Die Frage ist allerdings, wie lange das mit den alten Parteistrukturen geht. Denn deren vertikale Strukturen werden jetzt noch weniger als bisher dazu taugen, die Menschen wirksam zum eigenen Engagement zu „mobilisieren“.

Zur Alternative für die Bevölkerung wird die FSLN nicht allein dadurch, daß sie vor der Regierungsübergabe noch möglichst viele Ressourcen und Entwicklungsprojekte aus dem Staatsapparat herauslöst, sie als Stiftungen oder Kooperativen mit ihren Leuten besetzt und dadurch „revolutionäre Vorbilder“ am Leben erhält. Viel wichtiger wäre es jetzt, die eigenen autoritären Strukturen zu überwinden, die den Kontakt zur Basis so sehr verloren haben, daß sie die hohe Wahlniederlage nicht einmal vorhergeahnt haben.

Die FSLN-Führung - und das sind bisher immer noch die neun obersten comandantes (aus deren Kreis sich Humberto Ortega gestern nur aus taktischen Gründen verabschiedet hat, um auch unter Chamorro Armeechef bleiben zu können) - muß sich entscheiden: Will sie, in schlechter linker Manier, wieder Gewerkschaften und Basisorganisationen in eine wie immer geartete „Strategie“ einspannen und an deren Spitze gehorsame Parteikader setzen? Oder schafft sie den Sprung hin zu einer demokratisch geformten Opposition, die den bisherigen „Massenorganisationen“ eigene Autonomie zugesteht und die einer (bislang fehlenden) Selbstorganisation der städtischen Armen Geburtshilfe leistet, ohne sie gleich wieder zu entmündigen.

Das wird allerdings kaum möglich sein, ohne aus der Kaderpartei eine Massenpartei zu machen und an die Stelle der nur durch ihren Guerillakampf legitimierten comandantes eine von unten nach oben gewählte Führung zu setzen. Öffnung hin zur Gesellschaft, statt sie zu vereinnahmen. Die Zeit der Avantgardeparteien ist nun wirklich vorbei.

Michael Rediske