Zimmer mit Aussicht

■ Deutsche Erstaufführung von Lindsay Andersons „Wale im August“, mit Lillian Gish und Bette Davis, Sonntag, 21.40 Uhr, ZDF

Nein, ein Panoramafenster kommt nicht in Frage. Zum Bedauern ihrer Schwester Sarah (Lillian Gish) läßt die störrische und verbitterte Libby (Bette Davis) den liebenswürdigen Handwerker Joshua (Harry Carey jr.) das Werkzeug wieder einpacken. Die meiste Zeit ihres langen Lebens haben sie zusammen verbracht. Jeden Sommer fuhren sie gemeinsam zu Sarahs Haus am Meer, wo sie seit ihrer Jugendzeit die vorbeischwimmenden Wale beobachten konnten. Nach dem Tod von Sarahs Ehemann im Ersten Weltkrieg kümmerte sich Libby um ihre jüngere Schwester.

Seit ihrer Erblindung ist Libby auf die Hilfe ihrer noch immer romantisch veranlagten Sarah angewiesen, was sie verbittert werden läßt. Schroff weist sie Sarahs Jugendfreundin Tisha (Ann Sothern) ab, die die Einsamkeit der abgelegenen Insel mit ihrer mädchenhaften Überdrehtheit auflockert. Auch der charmante russische Emigrant, Mr. Maranow (rührend: Vincent Price), der Sarah dezent und würdevoll seine Aufwartung macht, bekommt von Libby eine kalte Dusche verpaßt.

Der englische Kino-Rebell Linsay Anderson, der für makabere Polit-Farcen wie O Lucky Man (1973) oder Britania Hispital (1982) bekannt ist, ordnete sich mit einer grazilen, schwerelosen Inszenierungsweise ganz dem Charisma der beiden großen Damen des Kinos unter. Auch das nach seinem gleichnamigen Theaterstück entstandene Buch von David Barry ist ganz im Sinne einer Reprise der Biographien von Lillian Gish und Bette Davis geschrieben. Es ist, als ob das Kino selbst, seine kaum 80jährige Geschichte, vor der Kamera steht.

1896 geboren, spielte die Schauspielerin und Regisseurin Lillian Gish in 102 Filmen. Neun Jahre arbeitete sie für und mit D.W. Griffith, der den Spielfilm, wie er heute existiert, erst erfand, ihm seine Form gab. Für Griffith baute Gish ein ganzes Studio auf, während sie nebenher noch bei Remodelling her Husband (1920) Regie führte. 1919 lehnte sie es bescheiden ab, neben Chaplin, Pickford, Fairbanks und Griffith fünftes Gründungsmitglied der legendären „United Artists“ zu werden. Ab 1913 eroberten Gesichter (wie ihres) die Leinwand und gebaren den Mythos des Stars. Mit würdevoller Demut gegenüber dem Kino hielt Lillian sich dem Kommerz fern und zog sich Ende der Zwanziger zurück, um erst in den Vierzigern wieder mit eindrucksvollen Charakterporträts auf der Leinwand zu erscheinen. In einem einzigartigen Interview mit Jeanne Moreau (1986) sprach die heute 94jährige unter anderem ihr ganz persönliches Credo aus: „Auf alles hoffen und nichts Bestimmtes erwarten.“ In diesem Sinn kehrt sie als Sarah in Andersons Filmdokument von 1987 immer wieder zum Strand zurück, ohne zu wissen, ob die Wale diesmal erscheinen.

Ganz anders die 1908 geborene, rebellische, zweifache Oskar -Preisträgerin Bette Davis, die in den Dreißigern vom Broadway zum Film kam und sich bald in zahlreichen Filmen als Darstellerin agressiver, durchsetzungsfähiger Weiblichkeit etablierte. Im Streit um ihr Recht auf bessere Rollen zog sie gegen Warner vor Gericht, verlor, ließ sich jedoch nie kleinkriegen: „Niemand ist so gut wie Bette Davis, wenn sie schlecht ist“, lautete eine sinnfällige Plakatunterschrift. Letztes Jahr starb die im Alter um ihre Rollen zynisch in Zeitungsannoncen werbende Grande Dame im Alter von 81 Jahren.

Ohne dies polternd an die große Glocke zu hängen, stilisiert Anderson Wale im August zu einem Denkmal für Lillian Gish und Bette Davis. Da es den beiden Damen im Leben kein Mann recht machen konnte, darf auch Vincent Price das harmonisch-garstige Wechselspiel dieser Charakter -Antipoden nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn Libby dafür am Ende dem Einbau des von Sarah so gewünschten Paroramafensters zustimmt, so wissen wir, daß das damit entstehende „Zimmer mit Aussicht“ das Kino selber ist, das mit diesen beiden Damen groß geworden ist.

Manfred Riepee