Die Macht der Ducke

■ Lange vor den Wahlen vom 18. März entstanden diese Aufzeichnungen. Leider sind sie bestätigt worden.

Helmut Reinicke

Beim StudentInnenkongreß vom 16. bis 18.2. in Leipzig - die Westdeutschen benahmen sich in ihrer Artikulationssucht, vor allem die gremienfixierten Jusos, so recht als Spanien -Touristen - kam es gegen den Aufmarsch Waigels, seiner Blasmusikanten und Wahlkampffreunde auf dem Karl-Marx-Platz vor der Oper zu einer spontanen Demonstration linker Studenten. Wie man es bei jeder anständigen Demonstration aus der Bundesrepublik kennt, konterte das Volk mit „An die Wand stellen“, „Aufhängen“ und den üblichen Sprüchen. Das Volk manifestiert sich wieder zu seiner Kenntlichkeit. Aus den pastörlichen Sammlungen wurden pfäffische Anbiederungen; sie landeten gerechterweise mit den eiligeren Opportunisten aus SED und Wirtschaft in der Bonner Christenpartei. Die schmierigsten SED-Agenten sind heute alte Widerständler in der Union. Die Zeit eines McCarthyschen Volkszorns hat begonnen. Der fortlaufende Sieg der freiwilligen Knechtschaft der Deutschen kündigt sich an.

Die Knechtschaft kriecht weiter, aus den Kellern, den Fensterhöhlen verfallener Häuser, den Amtsstuben; es riecht nach Nachkriegsbahnhöfen und den Zuchthäusern der sechziger Jahre. Das ganze Land riecht nach einem Feldzug gegen Ungeziefer: Die Hygienisierung eines gigantischen Zerfalls oder die Macht der Ducke.

Eindämmungen von Sinnlichkeit gehören zu den Einübungen des Gehorsams. Nicht irgendwelche Schmiergegenstände, Jagden oder Kunstgaben, sind der Skandal, sondern die Untertänigkeit, die Hetze gegen Langhaarige, Polen und der ganze Plunder. Die vierzigjährige Herrschaft der sozialistischen Einheitspartei hat alles Libertäre niedergewalzt. Keine Hecken und Sträucher wuchern mehr auf den Latifundien, keine Dickichte bieten Schutz in den großen Städten vor Plastik und Zement. Ein ganzes Land wartet darauf, daß ihm gesagt wird, was es gefälligst zu machen hat. Straßenzüge, Stadtteile, Fabriken, Landschaften - was hätte man alles besetzen, verwalten, in die eigenen Hände nehmen können! Schwarz, Rot, Gold

Die Farben Schwarz, Rot, Gold standen für die deutsche Einheit und signalisierten die Republik. Unter der schwarzrotgoldenen Fahne sollte eingeholt werden, was die Franzosen nach ihrer Revolution auch rechtsrheinisch verbreitet hatten: Citoyenhaftes. Das Vorwärtstreibende dieser Farben wurde dann schon in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848 in der Frankfurter Paulskirche kupiert. Sie wurden dem Preußenkönig hilflos untertänig offeriert, wiewohl sich Preußen, wie die Schleswig-Holstein -Frage gezeigt hatte, keinen Deut um eine einige deutsche Nation kümmerte.

Die Französische Revolution befreite die Erde. Sie verteidigten die ehemaligen Knechte gegen die Alliierten als Nation. Die Bedeutung der Erde kommt noch in Jacob Grimms Antrag zum Paragraphen 1 der Grundrechte des deutschen Volkes in der Nationalversammlung kämpferisch zumal er den polnischen Freiheitskampf unterstützte - zum Ausdruck: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Ein solcher Freiheitsbegriff konnte in Deutschland nie einheimisch werden. In Frankreich dagegen blieb die Erde freiheitliches Terrain, man fand hier Exil während des Faschismus; man berief sich auf diese Erde. Es gibt Gegenden im Odenwald oder Schleswig, die noch den Namen „Freiheit“ tragen; ehemals eine Art Niemandsland zwischen den Grenzen, deshalb wild bewachsen mit Dickicht. Für Unfreie und Flüchtlinge waren dies die engen Landstriche der Freiheit. Die Resistance trug noch den Namen dieser Verstecke: Man ging in den Maquis, „prendre le maquis“.

Es stimmt heimatlich, und es ist allemal rührend, wenn sich versprengte Stämme oder Volksteile zusammenfinden, um auf Grund der Erfahrung oder Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte eine gemeinschaftliche Gegenwart herzustellen. Dies können geschichtliche Befreiungsakte sein, die Regionen, Sprachen und Gewohnheiten vereinen und hierdurch gleichermaßen jeweilige Autonomien zu freier Äußerung bringen können. Der Nationalismus, der in Deutschland immer den Begriff der Nation erschlich und kompensierte - damit auch denunzierte -, hatte seinen Ursprung in der Zerschlagung des deutschen politischen Gebildes durch den Dreißigjährigen Krieg. Die Schwächung dieser Identität als möglicher Nation durch Kleinstaaterei wurde schließlich durch ein Übermaß an staatlicher Stärke ersetzt; dem Citoyen blieb kein Raum. Der Nationalsozialismus bot dann ein vorläufiges erzwungenes Ende dieser Trennungen durch Ausgrenzung und Expansion.

Eine Nation konstituiert sich - dies hatte Jacob Grimm der miserablen deutschen Geschichte wegen an den Anfang stellen wollen - auf freiem Territorium, befreiend für andere. Die Ausgegrenztheit von Fremden, Flüchtlingen oder auch nur anderen kennzeichnet den Alltag der BRD. Auch nach der vierzigjährigen realsozialistischen deutschen Variante - in Übersiedlerheimen wird gegen Polacken und Kanacken offen vom Leder gezogen - kommt dieses „Deutschtum“ wieder ans Licht. Unter der Einheitsflagge kann man es zumal offener sagen als im freien Marktgelände der BRD. Identitätsfindungen gehören zur Persönlichkeit eines Volkes. Retrograde Identitätsfindungen erzeugen indessen Neurosen.

Das war keine Revolution, das war ein Kollaps. Die Südstaatlerflagge

In der DDR findet der Durchreisende die schwarzrotgoldene Fahne an Fabrikgebäuden, Bürgerhäusern oder Schrebergartenbuden. Von Rügen bis hinunter zum Vogtland. Nur kommen hier die sächsischen Fahnen hinzu; vielleicht steckt in manch einer noch die Monarchie. So flattern vereinigte Sentiments nach hinten.

Wer in entlegenen Gegenden der Bundesrepublik - und am entlegensten waren bislang die einher der sogenannten Zonengrenze -, wer in solchen Gefilden sich bewegt, der wird dort, wo er kaum noch eine Menschenseele vermutet, vielleicht doch noch einige Häuser entdecken. Über dieser ganzen Abgelegenheit kann der Seumesche Spaziergänger oder beherzte Reiter das Zeichen eines eigenen ruralen Selbstverständnisses flattern sehen, die Südstaatlerflagge.

Die Rock-Revolte trug dieses Emblem. Für Rocker gilt die Südstaatlerflagge; überhaupt hat die Südstaatlerflagge auch heroische Tage gesehen: als Symbol der Young Patriots, einer sozialrevolutionären Ghettogruppe in den USA. Die Young Patriots bildeten - als einzige weiße Gruppe - mit den Young Lords (Puerto Ricanern) und den Black Panthers die „Rainbow Coalition“. Der Chief der Young Patriots - Ghetto-Weiße und Südstaatler, eine eigentümliche Konfiguration - sagte damals, 1970: „Die Südstaatlerflagge? Sie symbolisiert für uns den Süden, die Armut. Wir sind arme Weiße, unsere Vorfahren waren arme Weiße. Sklaven hatten wir nie. Wir wollen die White-folks in den Ghettos und in den Bergen mobilisieren.“ Die Young Patriots beriefen sich auf die weiße Guerillatradition - gegen die Sklaverei - von John Brown (gehängt 1859).

Die Südstaatlerflagge, die im Frankenwald oder Bayrischen Wald über einem erbärmlichen Gehöft flattert, ist ein Zeichen für „Country“, für Ressentiments gegen jedwedes Yankeetum. Nicht nur in den großen Städten sprießen Country -Clubs aus dem Boden; auch in den Marginalien symbolisiert „Country“ und die Flagge eine verschwommene Rebellion, die Einheit von Revolte und Backwardness. Sie signalisiert enorme Beschädigungen. Aber man ist stolz darauf. Sie ist das Zeichen der Rebellion gegen die Yankees.

Die Zeit der Yankees hebt nun im Randgebiet DDR an. Zweigniederlassungen von Banken, die Ableger der Neuen Heimat, McDonalds-Ketten, Landkäufer, Versicherungsagenten und Werbespots werden das Land vernetzen. Gerade deshalb werden nicht die „Stars und Stripes“ die Sentiments bewegen, sondern die Südstaatlerflagge, dieses Symbol der nach hinten verlorenen Revolteform. Die Yankees, welche die Südstaatlerflagge verramschen, werden die besten Geschäfte machen.