Späte Genugtuung für 'radikal'-Redakteure

■ Bundesgerichtshof hebt umstrittenes Urteil gegen Klöckner und Härlin auf / Schlappe für Berliner Kammergericht / Richter hatten Urteil mit reichlich Alkohol gefeiert

Ein Zeichen gegen die ausufernde Kriminalisierung nach Paragraph 129a und für mehr Presse- und Meinungsfreiheit die vier Verteidiger in dem legendären 'radikal'-Verfahren und ihre beiden Mandanten hatten gestern Anlaß zu später Genugtuung. Der Bundesgerichtshof hat ihnen formell mitgeteilt: das Urteil gegen die Berliner Szene-Zeitschrift 'radikal‘ ist aufgehoben. Der Revision der beiden 1984 verurteilten Journalisten Benny Härlin und Michael Klöckner wurde stattgegeben. Eine Begründung für seine Entscheidung lieferte der BGH noch nicht mit. Daß die Richter ihren Beschluß einstimmig faßten und auf eine mündliche Revisionsverhandlung verzichteten, spricht dafür, daß sie in dem spektakulären Urteil des Berliner Kammergerichts gravierende Rechtsmängel sahen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes rückt einen beinahe vergessenen Justizskandal und ein Stück linke Geschichte wieder in die Erinnerung: Im Jahr 1982 rücken Polit-Staatsanwalt Przytarszki, geheime Observanten und die Polizei dem über Berlin hinaus bekannten Szene-Organ 'radikal‘ auf den Leib. Das linke Blatt zieht vor allem mit dem unkommentierten Abdruck von Bekennerschreiben und mit militanten politischen Kommentaren den Ärger der Staatsgewalt auf sich. Immer wieder versuchen die „Ordnungshüter“ die Verantwortlichen des frechen Blattes zu orten. Die Redaktionsräume der 'radikal‘ werden durchsucht, Druckerei und Handverkäufer observiert, Redaktionssitzungen ausspioniert, aber an die Veranwortlichen kommt man nicht heran, weil es sie in der Kollektiv-Redaktion auch gar nicht gibt. In Ermangelung anderer „Täter“ sperrt die Staatsanwaltschaft 1983 Michael Klöckner und den taz -Redakteuer Benny Härlin in Untersuchungshaft. Als Gründer und Vereinsvorsitzende der „Zeitungskooperative“, in der die 'radi‘ erscheint, sollen sie büßen. Im Juni 1984 werden Klöckner und Härlin vom 6. Senat des Berliner Kammergerichts zu zweieinhalb Jahren Haft wegen Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“ verurteilt. In zahlreichen Veröffentlichungen der 'radikal‘ hätten die Angeklagten Gewaltdelikte „gebilligt und verherrlicht“ und sogar zur Schaffung „vieler Revolutionärer Zellen“ aufgefordert. Mediengewerkschaften, Journalistenverbände, Humanistische Union, Grüne und zahllose linke Gruppen protestierten gegen dieses „Gesinnungsurteil“ und diesen „Angriff auf die Pressefreiheit“. Währenddessen begossen die Kammerrichter im Verein mit der Staatsanwaltschaft noch im Gerichtsgebäude ihr drakonisches Urteil so reichlich mit Alkohol, daß es den Vorsitzenden Richter Palhoff die Freitreppe des Moabiter Gerichts runterschlug und er mit einem Schädelbruch im Krankenhaus landete.

Der Beschluß des BGH erteilt den trinkfreudigen Kammerrichtern jetzt eine weitere Lektion. Parallel zum Revisionsverfahren können Micha Klöckner und Benny Härlin jetzt noch einen zweiten juristischen Erfolg verbuchen: in dem 'radikal'-Verfahren hatte der Innensenator zahlreiche Polizeibeamte, die das Umfeld der 'radi‘ observieren sollten, als Zeugen „gesperrt“ und ihre Namen verweigert. Dies jedoch, so entschied jetzt das Oberverwaltungsgericht, war unzulässig. Im Rahmen eines konkreten Ermittlungsverfahrens nämlich unterstünden Polizisten als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft dem Senator für Justiz und nicht dem Innensenat.

Ve.