Verstehen Sie?

■ Die Kinder von Naziverbrechern sprachen mit dem israelischen Wissenschaftler Bar-On. Hier Auszüge aus einem der Gespräche

„Den kannst du doch nicht besuchen“, warnt mein Freund, „er wird dich rauswerfen.“ „Der Herr Professor ist ein Konservativer“, fügt seine Frau hinzu, „außerdem haßt er Juden!“ Meine Frau schaut mich ängstlich an. Ich weiß nicht weiter. Ich kam nach Deutschland, um die Kinder von Nazis zu interviewen, und nun versuchen meine Freunde, die mir hatten helfen wollen, mich vor mir selbst zu schützen. „Hört zu“, antworte ich, „ich werde es versuchen. Schlimmstenfalls wird er mich rausschmeißen. Was soll's?“ In mir ziehen jedoch Bilder des entsetzlichen Todeslagers vorbei, in dem der Vater stationiert war. Werde ich den Mut haben, dem Sohn zu begegnen?

Ich rufe ihn an, stelle mich vor und berichte von meinem Vorhaben. Spontan verabreden wir uns für den nächsten Morgen; es scheint, als habe er auf meinen Anruf gewartet. Ich stehe früh auf und beruhige meine Frau mit dem nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag, die Polizei anzurufen, falls ich bis 13 Uhr nicht zurücksein sollte. Ich nehme meinen kleinen Cassettenrecorder und gehe in den alten Teil dieser ehrwürdigen Universitätsstadt. Es ist ein heller und klarer Sonntagmorgen. Zu dieser frühen Stunde sind die Straßen leer, der Spaziergang macht mir Spaß. Vor seiner Haustür angekommen, wird mir jedoch plötzlich meine Angst bewußt. Ein großer, athletischer Mann öffnet die Tür. „Manfred.“ Hastig artikuliert er seinen Namen. Ich bin immer noch ängstlich, obwohl mich die Spur von Wärme in seinem Gesichtsausdruck etwas beruhigt. Ich sehe mich in seinem Haus um. Das Zimmer ist geschmackvoll eingerichtet und wirkt irgendwie vertraut. An einer Wand erkenne ich einen Druck vom Hamburger Hafen. Das gleiche Bild hing im Zimmer meiner Großeltern in Haifa.

Bar-On: Vielleicht fangen Sie damit an, mir zu erzählen, wann und wo Sie geboren wurden. Erinnern Sie sich an ihre frühe Kindheit?

Manfred: Also, geboren wurde ich im Mai 1947, in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg mit 7.500 Einwohnern. Dort ging ich auch zur die Schule. Zuerst auf die Volksschule, danach sechs Jahre lang auf eine Art Realschule. Da es in meiner Heimatstadt nicht möglich war, das Abitur zu machen, mußte ich die letzten drei Schuljahre in einer anderen Stadt absolvieren. Aber Sie haben doch etwas ganz Besonderes im Sinn. Worüber wollen Sie etwas erfahren? Über den Zweiten Weltkrieg?

Waren Sie ein Einzelkind?

Ja. Mein Vater starb, als ich acht Monate alt war, deshalb wurde ich von meiner Mutter und meiner Großmutter, später von meiner Großtante erzogen.

Wann fingen Sie an, Fragen über Ihren Vater zu stellen? Wann wollten Sie mehr über ihn erfahren?

(Verblüfft sieht er mich an) Also, da war ich vielleicht zehn oder zwölf. Ich würde jedoch sagen, daß die Vaterfigur in meinem Fall keine große Rolle gespielt hat. Nur eine sehr kleine. Meine Mutter ließ nicht zu, daß mein Vater an meiner Erziehung teilhatte. Die Ehe war nur von kurzer Dauer.

Wie lange waren sie verheiratet? Wann starb ihr Vater?

Wie lange ihre Ehe dauerte? Mein Vater beging Selbstmord, wegen bestimmter politischer Vorfälle während des Dritten Reichs, die ihn verfolgt haben müssen. Wie ich heute glaube, waren es die Vorkommnisse, von denen mir meine Mutter erzählte... Ich meine, sie hat nie einer politischen Widerstandsgruppe angehört, war in keiner Bewegung aktiv, aber als junges Mädchen wuchs sie in einer bestimmten Atmosphäre auf. Sie ging auf das Loewenberg-Privatgymnasium in Hamburg. Von allen Hamburger Schulen war dieses Gymnasium etwas Besonderes. Die Orientierung der Schule war nicht zionistisch, man war für die Assimilation und vertrat eine nationalistische Ideologie...

(Erstaunt blicke ich ihn an. Meine Mutter ging in Hamburg auf dieselbe Schule.)

Natürlich war meine Mutter, wie soll ich sagen, entsetzt, sie war sehr aufgebracht, aber ausführlich hat sie nie mit mir darüber gesprochen. Am Ende dann, während der letzten Jahre ihres Leidens, hat sie den Wunsch geäußert, nicht neben meinem Vater beigesetzt zu werden. Sie wollte sogar in einer anderen Stadt beerdigt werden. Das sagt einiges...

Lebt ihre Mutter noch?

Nein, sie starb vor vier Jahren. Wunschgemäß, wurde sie in R. bestattet, während mein Vater in meiner Heimatstadt beigesetzt ist (...). Durch meinem Vater hat sie sehr gelitten, dann kamen später noch finanzielle Probleme dazu. (...)

Hat sie je kritische Bemerkungen über ihn oder etwas ähnliches geäußert?

Nicht, daß ich mich erinnere. Nein, niemals. Meine Eltern lernten sich im Herbst 1945 kennen. Ungefähr ein Jahr später haben sie geheiratet, im Mai 1947 wurde ich geboren (...). Meine Mutter war schon einmal verheiratet. 1908 wurde sie geboren, 1932 heiratete sie einen Deutschen aus dem Baltikum. Nach der Scheidung verlobte sie sich 1942 mit einem Ulmer Maler, der an der russischen Front starb. Im Herbst 1945 traf sie meinen Vater (...).

Ich würde sagen, daß die wichtigsten Einflüsse im Leben meiner Mutter ihre Familie und die Loewenberg-Schule waren. Die Jahre auf der Schule haben ihre religiöse Überzeugung und ihre nationalistische Einstellung stärker geprägt als der Einfluß der Familie (...).

Hat Ihre Mutter mit Ihnen über den Nationalsozialismus gesprochen? Über die nationalsozialistische Partei? Über ihre Erlebnisse und ihre Gedanken?

Ja, eigentlich sehr viel. Ich denke, sie war keine von denen, die Widerstand geleistet haben; sie war eine Mitläuferin, trotzdem wollte sie nicht, daß ihr erster Ehemann (...) 1933 der Partei beitrat; sie war absolut dagegen. „Wozu?“ hat sie gefragt. Aber er dachte, es könne ihm beruflich von Nutzen sein, seiner Karriere als Rechtsanwalt dienen. Später wurde sie selbst aufgefordert, sich in der „Frauenschaft“ zu engagieren; sie wollte nicht. Als ihr Ehemann ihr riet, dem BDM (Bund Deutscher Mädel) beizutreten, hat sie ihm geantwortet, daß sie doch kein junges Mädchen mehr sei. Sie war dagegen. Meine Mutter hat es also wirklich geschafft, sich aus allen Parteiorganisationen herauszuhalten (...).

Meine Mutter hat mir erzählt, daß an ihrer Schule außer vier oder fünf Protestantinnen nur jüdische Mädchen waren. Als sie 1941 ehemaligen Mitschülerinnen begegnete, die Davidsterne tragen mußten, war sie empört. Das muß vor 1942 gewesen sein, sie soll zu ihrem damaligen Mann gesagt haben: „Genauso wird es uns ergehen. In ein paar Jahren werden wir in der Landschaft herumstreunen und einen Stern oder ein Kreuz tragen. So etwas darf man niemandem antun.“ Das gab ihr die innere Kraft, sich zu verweigern.

Sie hat mir noch von einem anderen Erlebnis erzählt. Einmal waren sie zur Hochzeitsfeier eines befreundeten Paares eingeladen, der Mann muß in der Partei gewesen sein. Jedenfalls hielt irgendein hohes Parteimitglied eine Rede, sprach davon, dem Führer vier Kinder zu schenken, so ähnliches Zeug, Parolen, die damals propagiert wurden. Und meine Mutter hat sich aufgeregt, hat protestiert. Meine Mutter war damals eine sehr attraktive Frau, in parteipolitische Fragen hat sie sich nie eingemischt. Sie machte eine Bemerkung, daß man solche Sachen nicht sagen dürfe, worauf ihr Ehemann sehr ärgerlich wurde.

Als sie Ihren Vater kennengelernte, was hat er ihr über den Krieg erzählt?

Nichts, mein Vater hat ihr nie etwas erzählt.

(Sein Tonfall ist plötzlich scharf, fast brüsk.)

Hat sie Ihnen das gesagt?

Ja, das sagte sie. Und ich habe ihr geglaubt. Ich denke, daß interessierte sie damals nicht besonders. Die persönliche Beziehung war ihr wichtiger. Natürlich weiß ich nicht, wie sehr es sie abgestoßen hätte, Einzelheiten zu erfahren und von meinem Vater völlig ins Vertrauen gezogen zu werden. (...) Sie hat nicht mit dem Regime übereingestimmt, und in einer Millionenstadt, nun, da konnte man sozusagen durch das Netz schlüpfen, Einladungen ignorieren, nicht erscheinen, sich uninteressiert geben. Andererseits war ihr Ehemann Parteimitglied, und das war für meine Mutter eine Art Tarnung. Ich meine, sie bekleidete kein öffentliches Amt, sie war ausschließlich Privatperson. (...) Deshalb konnte sie sich so verhalten.

Ihr Vater beging Selbstmord. Wußte sie, warum?

Am Anfang hat sie es nicht geglaubt. Im Verlauf der Zeit erfuhr sie von bestimmten Dingen. Es gab Gerichtsverhandlungen, Verurteilungen, Fakten wurden ihr bekannt, da mußte sie es einfach glauben.

Wie hat sie reagiert?

Meinen Sie, psychisch? Natürlich hat sie meinen Vater zunächst verteidigt. Ich glaube, Psychologen würden sagen, daß sie sich damit selbst verteidigen wollte.

Darüber hat sie mit Ihnen nicht gesprochen?

Doch, schon sehr früh. Noch bevor ich in die Schule kam, sprach sie mit mir ganz offen über den Tod meines Vaters. Vielleicht war das auch erst, als ich mit der Schule begann. Da muß ich sechs oder sieben gewesen sein. Aber sie hat es mir so erzählt, daß ich später nicht mehr daran gedacht habe, mich nie darüber gewundert habe, verstehen Sie? Hätte sie es geheimgehalten und ich wäre erst durch meine Klassenkameraden informiert worden, daß mich meine Mutter belog, hätte dies einen Bruch, einen Riß in der Familie, einen Mangel an Vertrauen zur Folge haben können. Aber ich erfuhr es von ihr selbst, und das sprach für sich.

Was hat sie Ihnen erzählt?

Sie hat erzählt, daß mein Vater sich umgebracht hat, weil er ein Nazi war... daß er im Nazi-Regime verschiedene Postionen bekleidet hatte, genaueres wußte sie nicht, sie hat sich dafür auch nicht interessiert, weil das alles geschah, bevor sie sich kennenlernten. Aber sie gab mir eindeutig zu verstehen, daß er ein Nazi war und daß er während des Nationalsozialismus schlimme Sachen, kriminelle Sachen gemacht hat. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber so wie sie über sein Ende sprach, schien sie es als gerechte Strafe zu empfinden. Vielleicht übertreibe ich, aber, man könnte sagen, daß sie kein Mitleid mit ihm hatte. Sie beschrieb mir das Ganze relativ sachlich, emotionslos, so daß ich selbst nie irgendwelche Emotionen damit verband. Mein Vater war für mich von Anfang an einfach mein Vater. Obwohl verschiedene Geheimnisse um ihn gesponnen wurden, war er in unserer Familie weder als Person noch als intellektuelle Autorität präsent. Wir sahen es eher so, daß er tot war und sozusagen das Haus verlassen hatte. Er war eine Un-Person. Deshalb wurde ziemlich sachlich und distanziert über die ganze Sache gesprochen. (...) Obwohl meine Mutter eigentlich ein sehr emotionaler Mensch war, waren ihre Schilderungen nie subjektiv gefärbt. Sie hat die Fakten vor mir auf den Tisch gelegt, und so konnte ich mich selbst mit ihnen auseinandersetzen. (...)

Wußten Sie später, als Erwachsener, was ihr Vater gemacht hat?

Die Presse berichtete wiederholt darüber. Aber ich habe mich nie weiter darum gekümmert (plötzlich sieht Manfred ablehnend aus) ... Als Wissenschaftler und Forscher könnte ich mich mit diesen Dingen beschäftigen, aber eigentlich lehne ich einen solchen Ansatz ab. Eine solche Herangehensweise könnte als Versuch interpretiert werden, meinen Vater in irgendeiner Form reinzuwaschen. Und das will und kann ich nicht. Es scheint mir (sehr aufgeregt), soweit das aus anderen Quellen bekannt ist, nun, er war schon einmal verheiratet, mit einer Frau aus Ulm, die in der Partei eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie starb unter ziemlich mysteriösen Umständen, nur wenige Tage nach dem Attentat auf Hitler am 20.Juli 1944. (...) Ich weiß, daß mein Vater damals seiner Aufgaben enthoben und im August 1944 an die Front geschickt wurde. Man könnte fast annehmen, daß es da irgendeine Verbindung gab. Ich bin mir aber nicht sicher, und es interessiert mich auch nicht. Es könnte nichts auslöschen, es könnte ihn nicht von seiner Schuld reinwaschen.

Was ich weiß, ist, daß er 1936 als mittelloser Arzt aus Österreich fliehen mußte. Als Anhänger des Nationalsozialismus wurde er von dem Schuschnigg-Regime gezwungen, innerhalb von 12 bis 24 Stunden das Land zu verlassen. Er ging nach Berlin, wo er seine erste Frau traf und in Nazi-Kreise kam. Und, soweit ich den Verlauf seiner Karriere verstehe, haben sie zunächst versucht, die Leute für das Euthanasie-Programm zu gewinnen, bis sie tiefer und tiefer hineinrutschten, und dann hatten sie alle sozusagen fest im Griff; entweder man macht dann weiter mit oder riskiert den eigenen Kopf. So sehe ich das, ganz rational.

War es für Sie schwierig, mit diesem Wissen zu leben?

Ja, nun, das ist eine schwere Frage, sehr schwer (lange Pause). Es ist schwer damit zu leben, wenn man sich ständig rational damit beschäftigt. Man muß an einem bestimmten Punkt aufhören, über diese Dinge nachzudenken. (...) Man kann mit seinen Gedanken immer weitermachen, und dann wird es tatsächlich sehr schwierig. Deshalb denke ich, daß man man sich irgendwann ausblenden muß, sagen muß: „Hört zu, ich kann die Fakten sowieso nicht ändern, also, was soll das Ganze? Mein Vater hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er verlangt hat, mir nach meinem 18.Geburtstag alles zu erzählen.

Ihre Mutter hielt sich nicht an diese Anweisungen...

Wenn sie das getan hätte, wäre meine Persönlichkeit heute vielleicht anders. Psychologisch gesehen war das völlig richtig. Ich glaube, meine Mutter besaß einen guten Instinkt dafür, was in diesem Fall richtig war.

(Wir machen eine kurze Pause. Manfred geht in die Küche, um Kaffee zu kochen. Ich bleibe zurück mit meinen Gedanken. Anfangs verdächtigte ich ihn, die Geschichte mit seiner Mutter als Tarnung zu benutzten. Jetzt aber muß ich zugeben, daß mich die Aufrichtigkeit, mit der er über seinen Vater spricht, beeindruckt. Er versucht wirklich, die Motive seines Vaters zu verstehen; seine eigenen Moralvorstellungen zeigen sich in der Entscheidung, den Namen seines Vaters nicht reinwaschen zu wollen. (...) Ich muß lächeln. Was für eine Angst ich vor ihm hatte! Inzwischen kann ich sogar sagen, daß ich ihn mag. Ich überlege, wann ich ihm von meiner Mutter erzähle. Dann schieben sich Bilder von seinem Vater und von Konzentrationslagern dazwischen. Soll ich mich auf meine Instinkte verlassen? Kann ich die Rolle des distanzierten Beobachters aufrechterhalten? Oder ist mein eigener Kopf gespalten, will die eine Hälfte nichts über die andere wissen? Als Manfred zurückkommt, spüre ich, daß auch er nachgedacht hat. Er lächelt freundlich und bietet mir eine Tasse Kaffee an. Ich schaffe es nicht zurückzulächeln.)

Hatten Sie je Kontakt zu den Opfern ihres Vaters? Haben Sie jemals etwas über sie gelesen?

Ich habe über sie gelesen. Falls Sie von den Todeslagern sprechen, nun, das war wahrscheinlich der ausschlaggebende Punkt für meine Mutter. Bis in die 60er Jahre hinein sprach man immer nur davon, daß mein Vater an dem Euthanasie -Programm beteiligt war. Während der Gerichtsverhandlung wurde darüber in der Presse berichtet. Das war für meine Mutter ein schwerer Schlag, ein letzter Schock. Danach stürmten alle auf sie ein, Sie verstehen, alle Freundinnen aus der Loewenberg-Schule. Wenn ich die alten Photos betrachte, waren fast alle Jüdinnen. Sie wuchs in einer jüdisch geprägten Umgebung auf.

Meine Mutter ist ebenfalls in Hamburg aufgewachsen. Sie ging auf dieselbe Schule wie Ihre Mutter.

(Seine Augen leuchten überrascht auf) Oh, das ist sehr interessant. Meine Mutter hat die Namen ihrer Klasssenkameradinnen aufgeschrieben - erst später, als alles bekannt wurde. Das war wirklich ein Schlag für sie. Sie hat die Aktivitäten meines Vaters nie verheimlicht, sie erzählte immer, daß er ein Nazi war und wie alle bestimmte Sachen gemacht hat, daß man über Euthanasie denken könne, wie man wolle. Damals war sie noch darauf vorbereitet, das zu erkennen. Sie sagte: „Nun, wo sind denn da die Grenzen?“ Als ich zu ihr sagte: „Aber, das ist schrecklich, solche Sachen zu machen“, war sie immer noch bereit, ihn zu entschuldigen und sogar zu verteidigen. Die Gerichtsverhandlungen waren für sie der Anfang einer neuen Ärä, markierten einen Bruch.

Sie waren ungefähr 19 oder 20, als alles herauskam?

Ich war 19 oder 20. Das war 1964.

Sprach Ihre Mutter darüber?

Es wurde besprochen, obwohl meine Mutter... Sie verstehen, das ist sehr schwer. Zum ersten, er war schon 20 Jahre lang tot, und schließlich hatten sie gemeinsam ein Kind, deshalb war es sehr schwer für sie. Es gibt eine Geschichte, die sie immer wieder erzählt hat und die ich ihr auch glaube. Ich denke nicht, daß sie log oder Sachen erfand. (...) Einmal hat sie meinen Vater in einem Ulmer Cafe getroffen. Als sie kam, saß mein Vater bereits an einem Tisch. Sie sah ihn da sitzen, und plötzlich dachte sie, dieser Mann ist ein Blaubart. Sie ging zu ihm, setzte sich und erzählte ihm von ihren Gedanken. Mein Vater muß davon irgendwie geschockt gewesen sein. So hat sie mir das später berichtet. Er fragte: „Wie kannst du nur so etwas denken?“ Als sie verheiratet waren, hat sie einmal zu ihm gesagt: „Du versteckst etwas vor mir. Ich bin keine Frau, die herumschnüffelt, das weißt du, aber ich fühle, daß du etwas vor mir verbirgst. Ich hoffe, du vertraust mir ein einziges Mal und erzählst mir davon.“ Sie muß gespürt haben, daß etwas nicht in Ordnung war, daß er etwas vor ihr verheimlichte. Natürlich wußte sie nicht, was.

Es war also kein bewußtes Wissen...

Bewußt wurde ihr alles erst später. Im Jahr 1948, während der Entnazifizierungskampagne, kamen Informationen über das Euthanasie-Programm ans Tageslicht. Das belastete sie sicherlich, aber sie war die ganze Zeit stolz darauf, daß mein Vater vermutlich nichts mit den Juden zu tun gehabt hat. Als sie später von seiner Arbeit im Konzentrationslager erfuhr, war das ein schwerer Schlag für sie.

Was hat sie gesagt? Hat sie geweint?

Es gab eine Gerichtsverhandlung, in der sein Name erwähnt wurde. (...) Danach hat meine Mutter mit ihm gebrochen. Sie hat ihre Meinung mehrmals geäußert, es war so ähnlich wie: „Ich bin froh, daß er sich umgebracht hat.“ Sie sagte das natürlich weniger für sich als für mich.

Vielleicht war es schwer, mit ihm zu leben...

Es ist völlig klar, daß meine Mutter so gedacht hat. Aber nicht schon 1948, erst später (...), vor allem in den 60er Jahren, als über die Konzentrationslager öffentlich diskutiert wurde. Was das Verhalten meines Vaters betrifft, wie es sich im Verlauf der Verhandlung dargestellt hat, wurde er wegen Imkompetenz suspendiert. Es gibt da eine Bemerkung, die er während eines Besuchs in Ulm zu dem Cousin seiner ersten Frau gemacht hat. Wie meine Mutter erzählte, sagte er: „Wir Österreicher werden von den Nazis dazu benutzt, aufzuräumen und den Dreck wegzumachen.“ Ob man dies sogar als kritische Äußerung auffassen könnte, weiß ich wirklich nicht.

Ich besitze verschiedene Photos, zum Beispiel aus dem Jahr 1944. Ich muß sagen, wie er da aussah, muß es ihn als Mensch tief getroffen haben. Meine Mutter war immer davon überzeugt, daß er sehr empfindsam, gefühlsbetont und zärtlich war. Im Kriegsgefangenenlager hat er sogar freiwillig im Tuberkulose-Zelt gearbeitet und sich angesteckt. Nach seinem Selbstmord hat ihn ein Arzt untersucht und festgestellt, daß er sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt hätte. (...)

Aber ich will meinen Vater nicht von seiner Schuld reinwaschen und allen Sachen nachgehen. Was für ein Sinn sollte dahinter stecken? Für mich wird es immer... die Zahl der Beteiligten ist irrelevant. Ob wir über hundert, tausend oder auch nur über eine einzige Person sprechen, unter moralischen Gesichtspunkten macht das keinen Unterschied.

Sogar im Fall von nur einer Person kann man von Schuld sprechen. So etwas von einem hochgeistigen, wissenschaftlichen Standpunkt aus zu untersuchen ist veraltet. Alles, was man tun kann, ist, eine theologische und moralische Lektion daraus zu ziehen.

Die Juden haben sogar noch in den Todeslagern Widerstand geleistet. Finden Sie nicht, daß man sich das schwer vorstellen kann? Warum hat sich Ihr Vater, als Mensch, da nicht widersetzt?

Ja.

Sein Blick wandert. Sein Gesichtsausdruck ist verzweifelt. Ich frage mich, ob er meine letzte Frage überhaupt gehört hat oder ob er es schwierig findet zu antworten.

Es fasziniert mich, daß man daran sehen kann, wie beschränkt die Menschen in ihrem Denken waren. Was ich meine, ist, daß polnische Jüdinnen oft sehr attraktiv waren, trotzdem ist mir kein einziger Fall bekannt, bei dem ein SS -Offizer einer jüdischen Frau wirklich geholfen hätte. Diese Beschränktheit, dieser Irrsinn sollte eigentlich als eine Art religiöser Wahn angesehen werden. So ähnlich wie die Verbrennungen der Ketzer im 16.Jahrhundert. Zwischen diesen Phänomenen gibt es irgendeine Verbindung (...). Ich finde, es sollte eigentlich eine Warnung sein, daß die Menschen sich nicht von irgendwelchen Ideen - seien sie moralischer, psychologischer oder philosophischer Natur - zu extremen Handlungen verführen lassen. Man sollte seine Individualität bewahren und selbst beurteilen, was gut und richtig ist. Man kann nicht einfach der Masse folgen, man muß entscheiden, ob das, was von einem gefordert wird, auch wirklich richtig ist. Das hat mir meine Mutter schon sehr früh beigebracht. Sie sagte immer, daß man für sich selbst verantwortlich sei und sich fragen müsse, ob das, was man tut, anständig ist: Läßt es sich mit dem Gesetz vereinbaren? Ist es ehrlich?

Eine Art persönlicher Rechenschaftsbericht...

Genau. So gerät man nicht einfach in Sachen hinein. (...) Das ist mir nie passiert. (...) Mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben, keinen Illusionen nachzujagen, keine Extreme zu verfolgen, das sind grundsätzliche moralische Prinzipien, die nicht aufgegeben werden sollten.

Ich schaue auf meine Uhr, es ist nach 13Uhr. Meine Frau könnte die Polizei benachrichtigt haben. Während ich telefoniere, sucht Manfred nach den Namen der jüdischen Mitschülerinnen seiner Mutter. Er kann sie nicht finden und verspricht, sie mir zu schicken. Ob meine Mutter vielleicht weiß, ob sie noch am Leben seien? Ich verspreche, sie zu fragen. Wir verabreden uns erneut. Ich bin mir nicht sicher, wem von beiden das Abschiednehmen schwerer fällt. Als wir schließlich an der Haustür stehen, bedankt er sich und schlägt die Hacken zusammen (...).

Zu Hause können meine Freunde nicht glauben, daß er so lange mit mir gesprochen hat. Ich versuche zu erzählen, kann mein Erlebnis jedoch nicht mit ihnen teilen.

Nach ein paar Tagen kommt ein formaler Brief von Manfred mit den Namen der Klassenkameradinnen. Ich rufe meine Mutter an, berichte von der Begegnung, unterschlage jedoch die Rolle seines Vaters in den Todeslagern. „Alice, Ruth, Deborah“, ruft sie. Alle waren in einem früheren Jahrgang: Alice lebt in Tel-Aviv, Ruth in New York (...).

In Israel spiele ich meiner Mutter die Aufnahme des Interviews vor. Sie ist ergriffen und betreten. „Ein Todeslager und die Loewenberg-Schule“, fragt sie nachdenklich, „kann man sich eine solche Kombination in einer Familie vorstellen?“