Gibt es eine DDR-Literatur?

■ Beobachtungen bei der Lektüre von „Schöne Aussichten - Neue Prosa aus der DDR“ - Der Versuch eines Vortrags

Arno Widmann

Wieviel Punkte verträgt ein Absatz?

Christian Dörings und Hajo Steinerts „Vorwort“ zu Schöne Aussichten - Neue Prosa aus der DDR beantwortet diese Frage. Sie schreiben: „schöne aussichten - geschichten von passgängern. grenzbeamten. schiffbrüchigen. seiltänze von sprachakrobaten im dichtergarten des grauens. erzählungen von imaginären küsten. beschwörungen der kastanienallee. erinnerungen an den brombeerbusch. liebeserklärungen an die provinz. beichten und andere verrücktheiten aus berlin. tagebücher von der mauer. geschichten von deutscher geschichte.“

Der Punkt als Zeigefinger. Das funktioniert nicht. Auch ein Stakkato will gekonnt sein. Nur der Laie hält das Schlagzeug für eins der einfachsten Instrumente. Döring und Steinert erzeugen hier einen besonders unangenehmen Lärm, weil sie das Auspunkten mit dem Bedeutungsschwangeren verbinden. Besonders abstoßend in dem zitierten Absatz: „seiltänze von sprachakrobaten im dichtergarten des grauens“.

Man sieht die Autoren vor sich, wie sie den Mund vollnehmen und am Nachklang ihrer Wörter sich noch einmal berauschen. Die kurzen Sätze sollen als Kontrastmittel für den schmelzenden Kitsch dieses Satzes dienen. Sie sind dazu nicht trocken genug. „Brombeerbusch“ und „Kastanienallee“ sind zu sehr vom selben Stamm wie der „dichtergarten des grauens“. Daß der Absatz kulminiert im Klischee aller Klischees „geschichten von deutscher geschichte“ mag ironisch gemeint sein. Hier steht es affirmativ.

Der ganze Abschnitt funktioniert wie eine Polizeimarke: er weist die Autoren als solche aus. Sie zeigen, daß ihnen jedes Klischee zur Verfügung steht. Die konsequente Kleinschreibung gehört dazu. Sie signalisiert dem Leser: Du bist im „Dichtergarten“, hier wird nicht informiert, hier wird Stimmung gemacht. Wie gut, daß die gerne umschlägt. Gar zu fett aufgetragene Reklame löst eine Kaufhemmung aus. Wenn zu laut getrommelt wird, halten die Leute sich die Ohren zu. Zu viele Punkte.

Der erste Text der Anthologie trommelt nicht. Seine Ästhetik ist die des „dichtergartens des grauens“. Nicht so vollmundig, so süffig glatt, sondern verstakst und immer daneben. Gleich die ersten Sätze stolpern übereinander: „Den Flüssen hier glaubt man nicht, daß sie ins Meer wollen. Der Elbe bei Dresden sieht man den Atlantik nicht an und nicht die Gezeiten.“ Da wird das Bild eines wollenden Flußes zwar gemalt, aber sofort wieder fallengelassen. Ein Text, der sich selbst nicht ernst nimmt.

Der zweite Satz verzichtet auf den Anthropomorphismus und sieht die Sache objektiv. Ein Lektor hätte den ersten Satz gestrichen und hätte so einen sehr guten Anfang gehabt: „Der Elbe bei Dresden sieht man den Atlantik nicht an.“ Da hätte er einen Punkt - das scheint die Obsession dieser Sitzung zu werden - gemacht, um das gar zu schöne „und nicht die Gezeiten“ loszuwerden. Dieser Nachklapp erzeugt zu schnell eine Musik, die durchzuhalten oder - worum es ja ginge - zu steigern nicht möglich wäre. Der Verdacht, daß ihr Klingeln keine Funktion hat als die, dem Leser zu signalisieren, hier wird Literatur, hier wird Kunst gemacht, klingt böse, aber er ist, liest man den Text, nicht von der Hand zu weisen.

Das kleine Kunststückchen, überall da, wo es einem kommt, ein wenig zu rhythmisieren, um da, wo man es nicht gleich parat hat, ganz darauf zu verzichten, ist ja, seit es Romane gibt, beliebt. Allerdings hat eine geräuschärmere Zeit zurecht Wert darauf gelegt, die Prosa möglichst frei von Jamben und Trochäen zu halten. Wenn dann an versteckter Stelle aus den grauen Protagonisten eines modernen Romans plötzlich ein homerischer Held Hexameter sprach, das machte Effekt. Je sparsamer man damit umging, desto größeren.

Der erste Text der Schönen Aussichten frönt dem Laster der Verschwendung. „Und nicht die Gezeiten“ - erinnern wir uns - endete der zweite Satz. Der dritte heißt: „Hier ist Ebbe, sagt jemand.“ Das ist ein Kalauer.

Kalauer sind schwierige Gesellen. Nicht, weil es schwierig ist, einen zustande zu kriegen, sondern sie sind schwer zu vermeiden. Jeder, der schon einmal versucht hat, ein Blatt Papier vollzuschreiben, weiß, wie schnell sie sich einstellen. Die ungewohnte Konzentration auf Wörter, ihre Bedeutungen und Klänge, lockt die Kalauer aus den hintersten Ecken unseres Wortschatzes. Sie zerstören jede Eindeutigkeit. Ich liebe sie darum.

Dieser hier aber kommt zu automatisch. Die Assoziationskette liegt offen da: Elbe - Gezeiten - Ebbe. Der Autor hat sich dem Betrieb überlassen, statt ihn zu steuern.

Sparsamkeit als ästhetisches Prinzip? Das wäre ein Mißverständnis. Es ist nur wie sonst auch: wer wenig hat, der sollte mit seinen Mitteln haushalten. Ein Oskar Pastior kann über Seiten kalauern und einem Jandl wird nie einer fehlen, wo er ihn braucht. Aber der Autor unseres Textes hat einen höchst beschränkten Vorrat an Mitteln, da sollte er darauf achten, wann er welches wo einsetzt. Es gibt keine Regeln der Art: nicht mehr als drei Punkte in einem Absatz von acht Zeilen oder nie mehr als zwei Kalauer pro Text. Es gibt aber die Beobachtung, daß jemandem, der versucht, mit fünf Bällen zu jonglieren, dabei alle zu Boden fallen, während er, hätte er nur zwei in die Luft geworfen, vielleicht gar keine schlechte Figur gemacht hätte.

Das sind Beobachtungen. Sie in Ratschläge verwandeln zu wollen wäre Unsinn. Ein Autor muß sich an dem versuchen, was er will und nicht an dem, was andere sagen, das er kann.

Wenn jemand Trommler werden will, dann muß er trommeln. Die Vorwortschreiber werden ihr Stakkato weiterüben. Vielleicht klappt es einmal. Der Autor des ersten Beitrags wird weiter den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen tun wollen. Vielleicht glückt ihm das einmal so gut wie Wilhelm Busch. Ästhetische Fehler sind wie Charakterfehler. Sie lassen sich nicht beheben, höchstens in Tugenden verwandeln.

Ein Text in der Anthologie belegt das sehr deutlich. Er hat den Titel kDas dritte Foto. Wer auch nur einen Blick auf ihn wirft, wird sofort sagen: Arno Schmidt-Epigone. Ein von Klammern, Doppelpunkten, Ausrufezeichen und Punkten - da sind sie wieder - völlig zerstörtes Schriftbild. Wer zu lesen beginnt, hört den Schmidt-Sound, diesen freien Fall der Rede mit Dialektschleifen, viel Englisch und jeder Menge Fremdwörtern zwischendurch. Ein verheerender Eindruck.

Der trügt. Der Autor tätschelt seine Krankheiten, päppelt sie hoch, entwickelt eine Virtuosität, daß das Ganze ein parodistischer Hochgenuß wird. Vorausgesetzt, man ist bereit, sich auf das Spiel, das schon mehr ein Sport ist, einzulassen. Wie beim Meister selbst, gibt es eine Skala der Initiationen. Zunächst müssen die Tücken der Schrift gemeistert werden.

Wir sind es nicht gewohnt, Punkt, Doppelpunkt oder Punkt, Klammer auf, Doppelpunkt zu lesen. Dergleichen stört. Haben wir so die erste Stufe erklettert, so kommt als nächste der eigenwillige Satzbau. Der so besonders nicht ist, nur halt versucht, die Rede abzubilden, ein aussichtsloses und gerade darum besonders verlockendes Unterfangen.

Wer sich da einliest, also anfängt, die Sätze zu verstehen, sie nicht mehr mühsam entziffert, dem teilt sich mit, wovon die Rede ist. Auch hier ist - ganz ähnlich wie beim Meister

-das Sexuelle das alles beherrschende Thema. Ich mag das fast ebenso sehr wie Kalauer.

Freilich ist es nur zu verständlich, daß die nach so viel Mühen zutage geförderte Erotik dem geplagten Leser den Stoß - hier würden der Meister und sein parodierender Schüler eine Klammer und darin drei Ausrufezeichen setzen - seufzer entlockt: dafür den Aufwand!?

Die Fans belehren mich, dahinter beginne erst die Lektüre. Das sind Höhen, zu denen ich mich nicht aufgeschwungen habe, von denen aber unser den Meister parodierender Autor mir eine Ahnung vermittelt hat.

Nein, ich meine nichts Metaphysisches hinter dem Sexuellen, sondern eine Darstellung der Erotik, die so glückt, daß der Stoßseufzer eine andere Bedeutung annehmen kann. Es ist hier nicht der Platz, um den mehrere Seiten langen Weg von der ersten Reizung bis zur Ejakulation zu zitieren und dabei noch deutlich zu machen, was ich so geglückt finde an der Beschreibung dieser pubertären Reiberei.

Man kann es nachlesen: Hier funktionieren die Kalauer, die wuselnden Wortspiele, die Verhexungen des Schriftbildes als die Lust verzögernde, damit steigernde Mittel. Was sich scheinbar störend zwischen mich und den Lesegenuß schiebt, sind nichts als Stachel, die mein Verlangen schüren. Der Text, so uneinladend, unerotisch er sich gibt, so sehr erotisiert er mich, den Leser. „Schöne Aussichten“ sind das.

Daß es auch Einsichten sind, nimmt ihnen nichts von ihrer sexuellen Komponente. Ich habe den Verdacht, daß es sie erhöht, soll ich sagen, verschärft? Das von Detlev Opitz so heißt der Schmidt-Parodist - so behend betriebene Doppelspiel von Verlockung und Verhinderung, funktioniert ja nur, weil die Erkenntnis immer wieder ihr lustaufschiebendes Spiel treibt. Das gilt für den Liebhaber, der sich, um die Ejakulation zu verzögern, auf den Leberfleck am Schlüsselbein der Geliebten konzentriert, ebenso wie für den Leser, der ein Doppelpunkt, Hola, Ausrufezeichen erst beim zweiten Lesen unterscheidet von einem Hol, Doppelpunkt, a, Ausrufezeichen. „Hola! Hol:a!.“

Das besonders Perverse dieses Liebesspiels freilich ist, daß die Beteiligten einander zwar genießen mögen, in Wahrheit aber eine Leiche scharmieren, den toten Arno Schmidt, der auf dem Bett liegt als bewegungsloser, von des Autor Opitz und unseren, der Leser, Anstrengungen gänzlich unberührter Klotz. Ich muß gestehen, daß, da ich mir das klarmache, der Text an erotischem Reiz sehr zu verlieren droht, aber jetzt ist es zu spät. Er hat seine Wirkung getan.

Sind wir mit diesen Beobachtungen einer Antwort auf die im Titel gestellte Frage „Gibt es eine DDR-Literatur?“ nähergekommen? Ich bin fest davon überzeugt. Ich habe Ihnen Beobachtungen von meiner Lektüre einer Anthologie Neuer Prosa aus der DDR vorgetragen. Es sind die Dinge, die mir zuerst auffielen, die mein Leseverhalten gesteuert hätten, hätte ich diesen Vortrag nicht zu halten gehabt. Ich hätte mich lustlos durch Vorwort und erste Beiträge gequält, um den Band dann beiseite zu legen. Vielleicht hätte ich ihn nach der begeisterten Rezension in der 'Süddeutschen Zeitung‘ noch einmal hervorgekramt und wäre doch noch auf Opitz gestoßen.

Nun aber ging es bei meiner Lektüre nicht um solche Bagatellen wie „Wieviel Punkte verträgt ein Absatz?“, sondern gewissermaßen um die Frage nach der Identität dieser Texte. Nein. Identität ist zu ungenau. Sind sie DDR -spezifisch? Man nennt das seit ein paar Jahren die Frage nach der kulturellen Identität.

Eine Reihe von Texten dieser Anthologie sind da ergiebiger als die von mir bisher herangezogenen. Texte, in denen es nur so wimmelt von DDR-Spezifischem - Jugenduweihe u.ä. -, es gibt andere, die ein Maskenspiel treiben zwischen Text und DDR-Wirklichkeit. Da macht zum Beispiel ein Mann mit Genehmigung seiner Frau Urlaub von der Ehe und fährt nach Paris.

Das wird schön durchgespielt, ist aber von einem nicht zu bremsenden pädagogischen Eros, so daß am Ende - trotz vieler schöner Einzelheiten - nichts bleibt als der Zeigefinger, der in einem ironisch sein sollenden PS erhoben wird: „Ehrwürdiger Leser, meine wüste Beichte ist bislang Fragment. Ich arbeite noch an meinem neuen Glauben (oder Denken); das mag manch wirren Kurz-Schluß erklären (aber nicht entschuldigen). Dennoch eine kleine Bitte zum Schluß: Halte das Beichtgeheimnis in Ehren, zeige ihr dies Protokoll nicht, aber nie ihren Onkeln und Tanten; diese würden ihr nur Zitate zumuten - und meine Gattin und ich, wir leben miteinander zur Zeit ganz possierlich.“

So ironisch solche Sätze sich geben, so ernst scheinen sie doch einigen Autorinnen und Autoren gemeint gewesen zu sein als sie den „Aufruf für unser Land“ veröffentlichten. Sie hätten besser daran getan, es mit Gustav Heinemann zu halten, der stärkere Gefühle dem Staat vorenthalten wissen wollte.

Näher möchte ich auf die zitierte Passage nicht eingehen. Aber doch ein paar Sätze zum so beliebten Thema Sklavensprache sagen.

Seit es Zensur gibt, gibt es die Illusion, sie fördere die Literatur, jedenfalls die Fähigkeit komplexer zu schreiben und zu lesen. Die geheimen Botschaften, die am Zensor vorbei das Publikum erreichen, jeder Text ein Palimpsest mit zwei klar zu trennenden Schichten.

Ich teile diese Auffassung nicht. Es gibt sicher Autoren, die das Doppelspiel lieben, die Bedeutungen gerne verstecken, sie einpacken und an den raffiniertesten Stellen hervorlugen lassen. Dieses Spiel gibt es überall. Für den ungeschlagenen Meister aller Klassen auf diesem wie einigen anderen literarischen Terrains halte ich Shakespeare. Und der hatte mit der Zensur sicher die geringsten Probleme.

Was die zensierte Literatur bietet ist so ziemlich das Gegenteil davon. Da werden aktuellen Konflikten reichlich zerschlissene mythologische Lumpen umgeworfen. Jeder sieht, daß die Handlung nicht in Troja, sondern in Karl-Marx-Stadt spielt. Der Zensor sieht das und sogar der oberste schon leicht depperte Recke im Politbüro. Warum lassen sie's durch? Weil es Kunst ist. Behaupte ich.

Was tatsächlich neunzig Prozent der DDR-Literatur durchzieht, das ist dieser Kunstgeruch, der strenge Geschmack: hier wird gekunstet. Man erklärt das oft mit dem Rückzug der Künstler in einen relativ geschützten Bereich. Das greift zu kurz. Das spezifisch Kunsttümelnde der DDR -Literatur, worauf ich bei den ersten Beispielen hinwies, hat mehr mit dem Kunstgeschmack zu tun, den die herrschende Clique pflegte, als wir uns klarzumachen gewohnt sind.

Der scheinbare Rückzug der Künstler war in Wirklichkeit ein Sprung an die Brust der alma mater SED. Die brauchte ihren Staat, und ein Staat hat nicht nur ein Wappen und einen Staatsratsvorsitzenden, sondern auch Briefmarken und eine Nationalhymne - wenn auch vielleicht ohne Text - und er hat, so dachten die Damen und Herren sich das, auch eine Literatur. Die hatte, solange der Staat sich noch nicht als Staat, sondern nur als sozialistischer Teilstaat eines zu schaffenden sozialistischen Gesamtdeutschlands sah, klassenkämpferisch und revolutionär zu sein.

Als aber die SED sich entschloß, der DDR eine eigene Identität zu geben, da brauchte sie eine „richtige“ Literatur. Also eine, die interpretiert werden muß und - das war die Chance - kann und darf. Das war die Stunde der Maskenspiele. Bei denen ging es nicht so sehr darum, etwas zu verbergen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie schön man verbirgt. Dazu gehört natürlich, daß jeder wußte, was da verborgen wurde.

Also doch eine DDR-Literatur? Sicher. Es gibt auch eine Berliner Literatur, die sich deutlich unterscheidet von einer Münchner Literatur, und vielleicht findet sich jemand, der bereit ist, die deutschsprachige Literatur wieder einmal durchzunadlern, aber ich halte das für eine - freundlich formuliert - reichlich überflüssige Beschäftigung, zumal jetzt, da es mit Sicherheit, falls es sie jemals gegeben haben sollte, nicht mehr lange eine DDR-Literatur geben wird.

Wir sollten nicht vergessen, daß das Problem, das wir jetzt an der DDR diskutieren, seit einigen hundert Jahren an der deutschsprachigen Schweiz, seit 1945 verstärkt an Österreich und leider seitdem nicht mehr an Prag verhandelt wird. Mit die bedeutendsten Exponenten der englischen Literatur haben England erst als Erwachsene gesehen, sind aufgewachsen in Trinidad und Pakistan. Wen von uns interessiert, daß Garcia Marquez Kolumbianer und nicht Venezolaner ist?

Es ist interessant dem nachzugehen, wie ein Autor die Realität filtert, was er aufnimmt und was er abstößt - zumal man auf diese Weise auch literarische Wüsteneien sich interessant machen kann und mit einigem Glück einen so raffinierten Schmidt-Epigonen wie Detlev Opitz entdeckt. Aber der erste Zugang eines jeden Lesers ist die Frage: Wieviel Punkte sind in einem Absatz?