„Hier entsteht die Atomruine Stendal“

Die landesweite Demonstrationspremiere gegen Atomenergie war unübersehbar von Westlern dominiert / Freundliche Kurzbesetzung des Baugeländes / Das AKW-Projekt steht vor der Übernahme durch Reaktorbauer aus der bundesrepublikanischen Kraftwerkszone  ■  Aus Stendal Gerd Rosenkranz

Einige Minuten schaute der Schwarzberockte mit dem Westmegaphon etwas ratlos herunter auf die halbe Hundertschaft Polizei, die dort unten, fünfzehn Höhenmeter unter den Demonstranten, eher aufgeschlendert als aufmarschiert war und sich so gar nicht martialisch gebärdete. Dann zog er sein Palästinensertuch vors Gesicht und schleuderte ihnen ein trotziges „Deutsche Polizisten: Mörder und Faschisten“ entgegen. Ob sie die Schmähung gehört haben, ist unwahrscheinlich. Der kämpferische Demonstrant und seine Mitstreiter jedenfalls zogen sich freiwillig zurück. Auch sie hatten längst bemerkt, daß „Zuspitzung“ auf dieser Veranstaltung nicht angesagt und überhaupt alles ganz anders war.

Zuvor - niemand weiß so recht, wie es kam - waren ein paar hundert der rund zehntausend KundgebungsteilnehmerInnen gegen die AKW-Baustelle Stendal vom rechten Wege abgekommen, hatten mit wenigen Handgriffen den verrottenden Zaun über eine Länge von einigen Metern entfernt und sich über großkalibrige Rohre auf einen Transportweg des schier endlosen Baugeländes vorgearbeitet. Nach dem Rückzug blieben die Rohre mit zahlreichen hierzulande nicht mehr besonders beliebten Symbolen, wie roten und schwarzen Sternen, und der hoffnungsfrohen Parole „Hier entsteht die Atomruine Stendal“ zurück.

Die erste landesweite und gesamtdeutsche Anti-AKW -Demonstration in der DDR war eindeutig west(berlin)dominiert. Busse und Pkw kamen aus Hamburg, Bremen, Wackersdorf und Castrop-Rauxel, aus dem Westteil der künftigen Hauptstadt, vor allem aber dem gorlebengeschädigten Wendland. Kaum jemand, der nicht in alten Erinnerungen schwelgte, als sich der Zug aus dem 100 -Seelen-Örtchen Dalchau mit Trommeln und Trompeten ausgesprochen gutgelaunt zum Bauplatz aufmachte: Grohnde, Brokdorf, Gorleben... Das Ganze mit dem entscheidenen Unterschied, daß Polizei - abgesehen von der kurzen Episode am Rand des Baugeländes - weit und breit nicht in Erscheinung trat.

Zwischen drei zu eins und sechs zu eins pendelten die Schätzungen über das Verhältnis von zugereisten Noch -Ausländern und „Einheimischen“, die an diesem sonnig -stürmischen Tag aus Dresden, Leipzig, Magdeburg und eben Stendal gekommen waren. Annähernd umgekehrt gestaltete sich die Beteiligung unter jenen rund hundert Radlern, die am Morgen aus der Stadt zum Demosammelpunkt an der Elbe aufgebrochen waren.

Die Anti-AKW-Bewegung in der DDR befindet sich fast noch in ihrer embryonalen Phase. Vor der Wende im November war das Thema praktisch tabu. Lediglich über die elektronischen Westmedien schwappte eine angesichts der Informationssperre im eigenen Land für viele befremdliche „Kriegsberichterstattung“ über die Kämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern der Atomenergie gen Osten. Und so staunten die meisten Einheimischen nicht schlecht, als sie am Sonntag die eher beschaulich-freundliche Variante des durchorganisierten westlichen Demotourismus erstmals hautnah beobachten konnten.

Die Aktivisten der Grünen Partei der DDR und des Neuen Forums, die vor allem für die Premiere mobilisiert hatten, versuchen in diesen Wochen zu informieren, so gut sie es selbst, praktisch im Schnellkurs, gelernt haben. Bei der Kundgebung am Haupttor verlangten sie den sofortigen Baustopp in Stendal und Ersatzarbeitsplätze für die knapp 10.000 Beschäftigten in den Bereichen effiziente Energienutzung und erneuerbare Energien. Wind und Sonne schienen ihnen an diesem Sonntag recht geben zu wollen.

Seit 1974 wird zwei Kilometer von Dalchau an der Elbe gebaut. Offiziell sollen hier einst vier sowjetische Druckwasserreaktoren der 1.000-Megawatt-Klasse die Atomstromproduktion der DDR mehr als verdoppeln. Doch daran glaubt niemand mehr. Der erste Block ist gerade zu einem Drittel fertiggestellt. Mit den für den nuklearen Teil entscheidenden Reaktoreinbauten hat man nicht mal begonnen. Das neue Energiekonzept der DDR, das in den vergangenen Wochen in Ost-Berlin Gegenstand mehrerer Kabinettsberatungen war, spricht nicht mehr von 4.000 Megawatt Leistung im Endzustand, sondern von 4.600 Megawatt. Mit anderen Worten: Zwei sowjetischen Reaktoren, die irgendwie, irgendwann sicher jedoch mit westlicher Hilfe - zum glücklichen Abschluß gebracht werden sollen, werden nach den Plänen der gegenwärtigen Regierung zu zwei 1.300-Megawatt-Blöcke hinzukommen. Voraussichtlicher Lieferant: Siemens/KWU, Erlangen.

Während sich die AKW-GegnerInnen in und um Stendal am mühsamen Geschäft der Aufklärung versuchen, hat sich die 'Volksstimme für den Bezirk Magdeburg‘ (vormals SED) nach 16jährigem Schweigen auf Durchhalteparolen festgelegt. Im Januar geriet das Blatt regelrecht ins Schwärmen ob der „untadelig lückenlos kontrollierten Qualitätsarbeit der Industriearbeiter und Ausrüster“ draußen auf der Baustelle. Als danach die Informationen über Schlampereien, Lieferschwierigkeiten der Sowjets und trostlose Lethargie auf dem AKW-Gelände nicht abreißen wollten, trat die 'Volksstimme‘ am vergangenen Freitag, dem Tag vor der Demonstration, mit einer wegweisenden Recherche auf den Plan: Man hatte sich vor Ort bei den leitenden Herren erkundigt, die Anlage in Augenschein genommen und klar erkannt, worum es sich bei den angeblichen Informationen handelt: Gerüchte.

Als sich die DemonstrantInnen am Sonntag nachmittag - nach einer gnädig kurzen Kundgebung - auf den Rückweg machten, sollte die 'Volksstimme‘ wenigstens an diesem besonderen Tag recht behalten. Unter den kontrollierenden Augen einer Abordnung des Werkschutzes hatte inzwischen ein Bautrupp die frische Lücke im Zaun mit nagelneuem Maschendraht geschlossen. Plan übererfüllt.