Gorbatschow hält die Welt in Atem

Die sowjetische Aussenpolitik hat in den letzten Jahren die Welt verändert / Globales Denken und Verlust der Weltmachtstellung wird durch die Reformer in Kauf genommen  ■  Von Erich Rathfelder

Es gibt sie zwar noch nicht, die weltweite Umfrage über den populärsten Politiker, aber auch ohne sie steht deren Ergebnis jetzt schon fest: Michail Gorbatschow würde heute, nach 5 Jahren Perestroika, mit weitem Abstand vorne liegen. Alle haben ihn ins Herz geschlossen, die Amerikaner genauso wie die Deutschen, die Franzosen wie die Japaner, die Polen und die Tschechen, die ganze nördliche Halbkugel liegt ihm zu Füssen, in Indien, in Lateinamerika, in der arabischen Welt, in Israel, selbst in Afrika war niemals ein Politiker der östlichen Weltmacht populärer als der energische Russe. Alte wie Jugendliche, Frauen wie Männer, alle sind sich in diesem Urteil einig. Allein in Albanien, China, Nordkorea und Kuba gibt es noch, wer weiß wie lange, Nörgler. Und nur in der Sowjetunion selbst, wo der Lebensstandard noch einmal gesunken ist und die Perspektiven der Umgestaltung unklar scheinen, wo Nationalitätenkonflikte die Reformpolitik überlagern, finden sich auch scharfe Kritiker.

Verwunderlich ist es, daß die Popularität Gorbatschows in allen politischen Lagern anzutreffen ist. Wenn ein Schönhuber oder eine Margret Thatcher genauso in den Chor der Bewunderer einstimmen können wie viele Linke hierzulande, wenn die Konservativen in den USA heute der „Gorbimania“ ebenso erlegen sind wie die Liberalen, wenn selbst die CIA und die Rüstungslobby nun fieberhaft in Südamerika nach neuen Feinden suchen und Abschied vom liebgewonnenen „Reich des Bösen“ nehmen, dann ist wahrlich eine Übereinstimmung erzielt, die einmalig ist. Wurden noch vor Jahresfrist in der westlichen Presse Befürchtungen geäußert, bei Gorbatschow handele es sich nur um einen Trick des Kommunismus, auf Umwegen doch noch die Weltherrschaft anzustreben, wurde er gar von einem deutschen Politiker vor nicht allzulanger Zeit mit Goebbels verglichen und seine Abrüstungsinitiativen als eine besonders geschickte Art empfunden, die westlichen Demokratien zu entwaffnen, wurde also noch vor Jahresfrist mit Mißtrauen und Unterstellungen, mit Gegenoffensiven und Gerüchten operiert, spätestens seit dem Fall der Mauer sind solche Attacken verschwunden.

Diese allseitige Bewunderung könnte den Mann ja geradezu verdächtig machen. Tatsächlich hat er vielen das heile, in den Kategorien von Freund und Feind verhaftete Weltbild geraubt. Mit dem „Neuen Denken“ mußten Rechte wie Linke gleichermaßen fertig werden. Und niemand konnte mehr auf festgefügten Positionen stehen bleiben. Das Tempo der außenpolitischen Veränderungen war zeitweilig atemberaubend schnell. Mit dem Abrüstungsvorschlag von 1987, mit der Vision einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahr 2000, wurden erstmals ernsthaft traditionelle Denkschemata in allen politischen Lagern erschüttert und der Welt „Luft zum Aufatmen“ gegeben. In ganz einfachen Worten, ohne viel diplomatischen Schnickschnack, war da ein Plan vorgelegt worden, der in mehreren Etappen die Beseitigung erst der Mittelstreckenraketen in Europa und Asien, dann die Reduktion der Lang-und Kurzstreckenwaffen, der chemischen und biologischen Waffen und dann die dramatische Reduzierung der konventionellen Rüstungen und aller Atomwaffen verspricht. Wer vorschnell diesen Plan als unrealistisch abtut, sollte sich ihn heute noch einmal ansehen. Der Leser wird erkennen - und das ist sicherlich das Überraschendste daß bis heute, 1990, die Abrüstungsschritte im vorgedachten Zeitplan erfolgt sind. Aus der Erkenntnis heraus, daß heute einen Atomkrieg zu führen, Selbstmord für die gesamte Menschheit bedeutete, - auch in der Sowjetunion vor Gorbatschow war sie nicht selbstverständlich - wurde eine politische Offensive eingeleitet, die das Selbstverständnis der anderen Supermacht zu erschüttern begonnen hat. Das Katastrophenszenario der Aufrüster und auch der Friedensbewegung wurde obsolet. Politikfähigkeit gegenüber Gorbatschows Angeboten entwickelten zunächst wenige westliche Aussenpolitiker, denen man das nach den Aufrüstungsdebatten der frühen achtziger Jahre gar nicht mehr zugetraut hätte. Der „Genscherismus“ war ein Glücksfall für die westliche Politik.

Angesichts der Hungerkatastrophen in der Dritten Welt und der ökologischen Zerstörung hat Gorbatschow 1988 vor den Vereinten Nationen eindringlich zu einem gemeinsamen Handeln aller aufgerufen. Vielleicht ist diese Initative Gorbatschows deshalb etwas aus dem Bewußtsein der westlichen Öffentlichkeit gerückt worden, weil sie in ihrem globalen Ansatz grünen Positionen entspricht, die das kapitalistische Weltsystem kritisch beschreiben. Der offensive Pragmatismus der sowjetischen Außenpolitik wurde deutlicher in der Frage der Lösung der „Regionalen Konflikte “ begrüßt. Auch die drei Bedingungen Chinas zur Verbesserung der Beziehungen mit der Sowjetunion wurden erfüllt. Der Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan war nur der Auftakt dafür, auch in anderen Weltregionen neue Perspektiven für die Beendigung der Stellvertreterkriege zu finden: in Kambodscha, im südlichen Afrika, selbst im Nahen Osten kam etwas in Bewegung. Die Rede in Wladiwostok 1987 zielte auf die Entspannung mit den als Entwicklungspool geltenden Ländern in Fernost, auf Japan, China, Singapur, Hongkong, Taiwan und Südkorea. Wenn auch die Beziehungen zu China nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens wieder frostiger wurden, die Wandlung Wladiwostoks vom Militärhafen zur Freihandelszone hat dennoch begonnen.

Die Sowjetunion ist keine militärisch weltweit operierende Supermacht mehr. Zwar ist die us-amerikanische Politik nicht gegen die Versuchung gefeit, das so entstandene politische Vakuum auszunützen, wie in Mittelamerika und Afghanistan zu sehen ist. Doch bleibt die Bilanz für die Sowjetunion dennoch positiv. Nicht nur, daß sie sich zunehmend der finanziellen Verplichtungen gegenüber ihren alten Verbündeten entziehen konnte. Schwerer wiegt der weltweite Vertrauenszuwachs, die politische Euphorie und die Zukunftshoffnungen, die entstanden sind, der Abbau der Feindbilder.

Mit Gorbatschows Vision von einem gemeinsamen Haus Europa 1988 war den Revolutionen und Reformen in Ostmitteleuropa grünes Licht gegeben. Zwar hütete sich Gorbatschow davor, im Stile der Breschnew - Doktrin Druck auf diese Verbündeten auszuüben. Aber indem glaubhaft wurde, daß die Sowjetunion bei Wandlungen in diesen Ländern nicht mehr militärisch eingreifen würde - Polen und Ungarn waren hier die Nagelproben - war das Signal für den sich schnell entwickelnden Machtverlust der kommunistischen Eliten wie in Bulgarien und für die Revolutionen in der CSSR, der DDR und Rumänien gegeben. Daß damit sogar ein Weg für eine neue Friedensordnung in Europa, für die Auflösung der Militärblöcke eröffnet worden ist, wurde erst in den Diskussionen der letzten Wochen über die deutsche Einigung deutlich. Und wird der begangen, könnte sich der Blick richten auf die alle bedrohenden Konflikte dieser Erde, der weltweiten ökologischen und der ökonomischen Katastrophe in der Dritten Welt.

Wer zittert da nicht bei den Nachrichten über die Nationalitätenkonflikte in der UdSSR angesichts dieser positiven Bilanz ? Wenn wieder einmal Aserbaidschaner auf Armenier einschlagen oder Usbeken gegen Mescheten vorgehen, wenn wieder einmal die zaristisch - stalinistische Erblast offenbart wird und die Sowjetunion zu zerbrechen droht, scheint der Preis der Gorbatschowschen Öffnungspolitik für die Sowjetunion sehr hoch gewesen zu sein. Doch seine weltweite Popularität begründet sich gerade auch in dieser scheinbaren Schwäche. Wenn nun auch im Westen darauf geachtet würde, das politische Machtvakuum nicht einseitig auszunützen, könnte in der Sowjetunion die Reform oder die Revolution tatsächlich noch zu Ende geführt werden. Denn die schärftsten Kritiker Gorbatschows dort sind diejenigen, denen das Tempo der Perestroika im Lande selbst zu langsam ist.