Wie es verschwindet

■ Leslie Kaplans „Die andere Seite des Flusses“

Worte, Sätze. Kurze Sätze, die einen Fluß beschreiben, das Ufer mit seinen Lagerhallen, Bürohäusern, Restaurants. Danach folgen die Menschen, in einem Cafe. Suzanne und Sebastien. Sie Kellnerin, er Gast. Und wieder Worte, Sätze. Die ersten Worte sind die wichtigsten.

Er, Sebastien, schreibt ihr auf der Rückseite einer Rechnung: „Wollen Sie heute mit mir spielen? Es kann nicht schlimmer sein als alles andere.“ Der Brief eines charmanten Schweins.

„Es kann nicht schlimmer sein als alles andere“, schreibt er. Es kann. Und: Alles andere meint die Arbeit, das Cafe, die Blicke auf ihre Brüste, der Lärm der Straße, das Drängeln in der Metro, der Abwasch, der miese Lohn, der Alltag, der Alltag einer Frau.

1982 debütierte Leslie Kaplan mit einem schmalen Band Prosa L'exces - L'usine (Der Exzess; manholt) über das Thema Fabrik. Literarisches Novum: Der Ex-Maoistin, der Studentin der Klinischen Psychiatrie, der Tochter eines Diplomaten, ihrer Prosa gelang das Unmögliche, nicht die Fabrik beschrieb sie, sondern, so das euphorische Votum der Literaturkritik, sie schrieb die Fabrik.

Erst im Oktober 1989 erschien Brooklyn Bridge, jetzt kaum zwei Monate später L'epreuve du passeur, auf Deutsch Die andere Seite des Flusses. Das klingt nach Steinbeck oder Faulkner, ist aber naturallement Leslie Kaplan.

Die Fabrik schreiben und jetzt den Menschen?

„Anais starrt sich im Spiegel über der Theke an, dann sagt sie: 'Ich geh‘ anschaffen, und das reicht mir‘.“

Es reicht nicht. Vielleicht materiell, aber es kann nicht reichen, so wie es Lise nicht reicht mit Jean und Jean nicht mit Sebastien, Suzanne nicht Anais. Und so weiter. Sie wollen mehr, das Mehr ist ganz einfach, Leslie Kaplan legt die Worte behutsam schon zu Anfang ihres Romans in die Sätze, wie man ein Komma setzt, nebensächlich, fast unbeobachtet stehen dort die Worte: „Der Tag einfach und offen“, das ist schön, das ist Programm.

Offen, nach allen Seiten offen; nach den Möglichkeiten. Die Tage sind offen, wie Fabriktore hin zu den Verlusten. Die Frauen neigen einander zu, berühren sich, reden, sprechen miteinander, offen und einfach, ahnen, erahnen das Leben. Die Männer besitzen die Sprache und die Produktionsmittel, Jean und Sebastien mit ihren Aktivitäten im kulturellen Kommunikationszentrum der Stadt sind stets im Zentrum der Wörter, sie sind die Wörter.

Sie benennen die Worte, die bei den Frauen zu verharrenden Bildern werden, die auftauchen, unvergessen bleiben.

„Ich hatte den Eindruck, ich würde daran ersticken. Überall drang es in mich ein. In die Haut, in die Augen. In den Mund. Sie zuckte mit den Schultern. In die Ohren.“

Nicht nur die Worte dringen ein, die Frauen sprechen von ihren Empfindungen, die Rede ist auch vom Eindringen der Schwänze.

Anais, die Nutte, wird zum literarischen Vakuum, das laut Alain Robbe-Grillet den Modernen Roman markant situiert, sie verschwindet, die Leere beginnt, eigentlich begann sie schon vorher, doch vorher waren noch die Worte; die Worte von Anais. Wir wissen nur wenig, wir wissen nur, sie litt. Ihre Bewegungen, ihre Worte wurden heftiger. Dieses Verschwinden einer Person im Raum, in der Handlung, schafft Spannungen, bei Suzanne, die sie suchen wird, aber auch bei Lise, Jean und Sebastien. Die Verschwundene, die nicht mehr Vorhandene, ist nur präsent durch die Worte, aber die Worte schaffen neue Spannungen, die nicht Vorhandene Madame Bovary schafft ungeahnte Explosionen.

Sebastien explodiert zuerst, mit ihm Lise, die einst zu Jean gehörte. Es könnte ein Roman über die subtilen Gefühle von Menschen sein, Frauen und Männer mit ihren Beziehungen, ihrer Schuld, aber da Frauen und Männer reden, sich berühren, also Beziehungen haben, ist die Prosa von Leslie Kaplan auch die Schilderung eines Verschwindens von diesen vielfältigen, vielschichtigen Gefühlsbeziehungen, eine Geschichte des ständigen Verschwindens.

Oder die eines Verbrechens. Wenn man die Terminologie nicht zu sehr eingrenzt, bleibt ein Verbrechen. Zahlreiche Verletzungen sind spürbar, das komplizierte Spiel von Sebastien, als Angriff gegen Jean inszeniert, könnte als Beweis gelten für eine Entlarvung.

Wie es verschwindet, wie es ist, danach, nach dem Verschwinden, wie es dazu kam, kommen konnte. Auch Sätze tiefer Sehnsucht, selten wurde die Sehnsucht nach dem anderen so intensiv versucht, wo doch der Text für lange Passagen eher distanziert klingt, nie wurde der Frühling so eratmet, aufgesogen. Etwas ersehnt, das anders ist als all das andere.

Leslie Kaplan schreibt subtil-feminin, vermeiden wir das inzwischen deklassierte feministisch. Ihre Prosa verweist stets auf ihre Vergangenheit, auf die Fabrik. Sie nähert sich dem Reich der Sinne, nirgends war Leslie Kaplan bisher oberflächlicher der Haut zugewandt, den Gerüchen, den Gefühlen. Mehr noch, als wünsche die Zunge ein Eintauchen. Doch jede Pore, jedes Stück Haut, jedes Fleisch hat seine Knochen. Ihr Blick gehört den Frauen (und Männern), die aus der Fabrik kommnen und ins Cafe gehen. Auch die Stadt hat ihre Knochen. Die Knochen bleiben die Büroräume, die Lastkähne, die Bleche und der knochenharte alltägliche jargon du peuple.

Explosionen, Verletzungen, Schuld, „jeder bleibt allein, zerrissen“, die sich lieben, verletzen einander, die miteinander reden, bleiben außerhalb der Wörter.

Lise rennt Jean entgegen, zum Ende wird die vielschichtige Prosa wieder klarer, aus dem Dunkel ins Helle rennen, nach allen Seiten offen, das Rätselspiel von Sebastien, darauf spielt der deutsche Titel beziehungsreich an, wer denn schuld sei, der Mörder der untreuen Ehefrau, ihr Geliebter, der ihr die Hilfe verweigert, der Ehemann, der die Frau in die Untreue trieb, wer von all den Personen ist schuldig? Das Wort verweist auf den Mörder, das Wort benennt ihn. In seiner Schuld ist er den Blicken ausgeliefert, aber ist er zwangsläufig der Schuldige? Sebastien rebelliert dagegen. Ein Labyrinth der Gefühle, auch der Psyche, als Lise zu Jean zurückkehrt, ihn liebt, da erst beginnt das erschütternde Weinen, über sich und ihren Jean, nicht weil er Jean ist, ein Menn wie eben ein Mann ist (und war), sondern weil er ein Mann ist und nicht weiß (nie wissen wird), was das bedeutet (für die Frauen). Die Hölle ist es, ein Mann zu sein, für die andere(n). Dieses Weinen von ihr schließt ihn aus, „wie in einer Schachtel“ isoliert, bleibt jeder allein.

Frank Mühlich

Leslie Kaplan: Die andere Seite des Flusses. Rowohlt Verlag, 172 Seiten, 8.80 DM