Rente für Honecker

Politische Auseinandersetzung statt Strafprozeß  ■ K O M M E N T A R E

Honeckers Erklärung, mit der er sich „zu der politischen Verantwortung für die Krise“ bekennt und zugleich für „die Umstände, die letztlich zu der Fälschung der Wahlergebnisse vom 7.Mai führten“, liest sich wie eine Stimme aus dem Jenseits. Daß zum Sendboten ein Pfarrer gewählt wurde, hängt mit dem Inhalt der Nachricht zusammen: Sie soll wohl als Bitte um Nachsicht gelesen werden. Daß Honecker behauptet: „Ich habe nie in meinem Leben politische Entscheidungen aus egoistischen Motiven getroffen“, dürfte aus seiner Sicht zutreffen. Die Motive Macht und Rechthaberei hat er dabei freilich vergessen. Doch wichtiger ist, daß die Erklärung Anlaß gibt, über ein anderes Problem noch einmal nachzudenken: Ob es Sinn macht, mit einem gescheiterten politischen System strafrechtlich abzurechnen. Wenn Honecker und seinem engsten Führungskern jetzt „Hochverrat“ vorgeworfen wird, weil sie die Macht „usurpiert“ hatten, fragt man sich, ob die Verhältnisse irgendwie besser geworden wären, wenn etwa in Artikel1 der Verfassung statt allgemein von der „führenden Rolle der Partei“ zu reden, gestanden hätte, daß alle politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen von Belang durch das Politbüro der SED zu fällen sind.

Das alte System wird jetzt an seinem eigenen juristischen Formalismus aufgehängt. Darin liegt historische Gerechtigkeit, doch zugleich auch eine gewisse Verlogenheit. Denn jeder wußte, daß die veröffentlichten Gesetze das eine waren, das tatsächliche Funktionieren aber etwas ganz anderes. Und daß der Laden viel früher zusammengebrochen wäre, hätten alle Dienst nach Vorschrift gemacht. Das ist kein Plädoyer dafür, etwa die Wahlfälschungen ungesühnt zu lassen. Denn die andere Seite der Medaille besteht darin, daß allzu dreister Gesetzesverstoß die Möglichkeit des Umschlagens eines autoritären Polizeistaates in die offene Despotie in sich birgt. Doch von solchen krassen Fällen abgesehen - zu denen selbstverständlich auch die Mißhandlung von BürgerInnen gehört - ist es der künftigen politischen Kultur in diesem Land gewiß nicht zuträglich, wenn die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den JuristInnen übertragen wird. Sie sollte Sache aller BürgerInnen sein und auch weniger darin bestehen, Schuld zuzuweisen, als sich über Strukturen klar zu werden und sie zu verändern. Auch dort, wo die kleinen Despoten, die böswilligen Opportunisten und Karrieristen zur Rechenschaft gezogen werden, ist das keine Aufgabe für die Strafjustiz oder gar einer Gesinnungsjustiz, sondern wäre auszutragen als Teil einer Demokratisierung der Institutionen. Den alten Honecker aber

-so meine Meinung - sollte man in seinen letzten Lebensmonaten in Ruhe lassen. Was könnte schlimmere Strafe für ihn sein als der Zusammenbruch der Welt, in der er und für die er mehr als sechs Jahrzehnte gelebt hat?

Walter Süß