„Neoliberalismus hat im Osten Konjunktur“

■ Westberliner Gewerkschafter erteilen ihren Ostberliner Kollegen Nachhilferecht in Sachen Organisationsstruktur Das Betriebsrätegesetz ist im Osten attraktiv / Mit dem westlichen Recht erhofft man sich auch den westlichen Wohlstand

In einer Zeit, in der in der DDR alles anders wird, werden Diskussionen geführt, die alte Gewerkschafter jung werden lassen, oder zumindestens auf Trab bringen. Jeden Tag tauchen bei sämtlichen Berliner Einzelgewerkschaften, vor allem bei der Gewerkschaft, Handel, Banken und Versicherungen, sowie bei der IG Metall, KollegInnen aus Ost -Berlin auf, die sich Basisinformationen über die Organisationsstruktur des Deutschen Gewerkschaftsbundes, über Funktionärswahlen, über Betriebsräte und Vertrauensleutearbeit abholen. Tonnenweise verteilen die Gewerkschaftssekretäre das Betriebsverfassungsgesetz, einschließlich der Kommentare.

„Wir sind schon fast pleite“, stöhnt HBV -Bezirksvorsitzender Manfred Müller. Der Ansturm der Ost -Informationssuchenden blockiert inzwischen schon fast die normale Alltagsarbeit. Sowohl der DGB als auch die IG Metall haben jetzt einen festen wöchentlichen Beratungstermin eingeführt, die Einstellung weiterer Rechtssekretäre wird diskutiert. Die HBV wählte einen anderen Weg. Täglich besucht Müller eine Betriebsversammlung im Osten.

Aber nicht genug damit. In der vergangenen Woche lud die IG Metall West die IG Metall Ost Kollegen zu einer Diskussionsveranstaltung ein. Etwa 100 Funktionäre der Betriebsgewerkschaftsleitungen aller großen Ostberliner Metallbetriebe aber auch viele einfache Mitglieder, von Bergmann-Borsig, Kombinat 7. Oktober, VEB Anlagenbau, Robotron bis hin zur „IG Wissenschaft“ des Instituts für Kosmosforschung waren erschienen um mit den Betriebsräten von Siemens, AEG, Osram, die alle in der DDR bewegende Frage zu diskutieren, wie soll es weiter gehen mit dem „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund“. Ab 31. Januar tagt in Ost -Berlin der „außerordentliche Satzungskongreß“ des FDGB der darüber entscheiden wird, ob es in der DDR weiter einen zentralisierten Einheitsverband mit Grundorganisationen geben wird oder ob nicht vielmehr der FDGB ein Dachverband unabhängiger Industriegewerkschaften nach westlichem Muster werden kann.

Genauso heftig wie die Organisationsfrage beschäftigt die Kollegen aber auch die Frage; soll es wie bisher Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) geben, deren Mitbestimmungsrechte im Arbeitsgesetzbuch verankert sind, oder versprechen nicht vielmehr die „Betriebsräte“, für die es in der DDR noch keine gesetzliche Grundlage gibt, innerbetriebliche Demokratie und Verbesserungen am Arbeitsplatz. Das alte System BGL hat sich durch SED Nähe, Korruption und als Büttel der Planerfüllung diskreditiert, in vielen Betrieben wurden die alten Funktionäre einfach abgesetzt. „Das neue Modell Betriebsräte“, erzählt ein Stahlwerker aus Henningsdorf, „ist attraktiv, weil keiner es kennt und weil es aus dem Westen kommt.“ Der Kollege brachte das Problem auf den Punkt. Die Joint-ventures interessierten Kombinatsdirektoren fahren in den Westen, erfahren dort, daß das bundesdeutsche Betriebsrätegesetz weitaus restriktiver ist als das DDR-Arbeitsgesetzbuch und werben jetzt in den Betrieben für dieses Modell. Die KollegInnen wiederum kennen den Unterschied zwischen Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten nicht: „Uns fehlen vierzig Jahre gewerkschaftliche Diskussion.“ Sie sind fasziniert vom westlichen Wohlstand und den Ideen einer 35-Stunden-Woche. Das hätten sie auch gerne. So laufen sich jetzt zwei Interessensgruppen in die Arme. Es entsteht die paradoxe Situation, daß die reiche und starke IG Metall West den armen KollegInnen Ost, Nachhilfeunterricht darüber erteilen muß, daß die Betriebsgewerkschaftleitungen viel mehr Möglichkeiten bieten, die unangenehmen Begleiterscheinungen eines gewinnorientierten Wirtschaftssystems zu verhindern, als das bewunderte Betriebsrätesystem. „Für alle bundesdeutschen Gewerkschafter, die eine marxistische Schulung hinter sich haben, bricht eine Welt zusammen“, kommentiert Manfred Müller die seitenverkehrte Situation, „der Neo-Liberalismus hat im Osten Konjunktur.“

ak