Die Nato rüstet um auf „Deep Strike“

Trotz offensichtlicher Evidenz, daß eine aggressive Bedrohung aus dem Osten nicht zu erwarten ist, hält die Nato nichts von Abrüstung / Eine Tagung von Experten und Offizieren der 35 KSZE-Staaten in Wien belegt: Der Westen setzt auf weniger „Manpower“ und mehr „High-Tech“  ■  Aus Wien Andreas Zumach

Von Friedensforschern und -bewegten, Politikern und Militärs aus Ost, West und neutralen Staaten wurde es seit Jahren immer wieder gefordert - ein Forum, auf dem beide Seiten in Europa nicht nur über Panzer, Raketen und andere Hardware reden, sondern auch über ihre Militärdoktrinen sowie ihnen zu Grunde liegende Einschätzungen der Fähigkeiten und Absichten der anderen Seite. Nun, da die führenden Militärs aller 35 KSZE-Staaten seit gestern in der Wiener Hofburg endlich für ein dreiwöchiges Seminar zu diesem Thema zusammenkommen, ist nicht auszuschließen, daß zumindest die Nato-Vertreter an den derzeitigen Realitäten in Europa vorbeireden.

Für die USA nimmt der Chef des vereinigten Generalstabes, Colin Powell, für die UdSSR der Oberkommandierende der sowjetischen Streitkräfte, Michail Moissejew, teil. Die BRD ist durch den Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Dieter Wellershoff, vertreten. „Vorneverteidigung“ und „flexible response“ - aus den schriftlichen Beiträgen westlicher Seminarteilnehmer jedenfalls ist eine Änderung der jahrealten Nato-Strategie nicht ersichtlich. Die Frage, ob die westlichen Behauptungen über aggressive Absichten und entsprechende militärische Fähigkeiten der Warschauer Vertragsstaaten (WVO) in Europa jemals seit 1945 realistisch waren, sei einmal offengelassen. Unbestreitbare Realität heute ist, daß diese Absichten und Fähigkeiten nicht existieren. Die von Gorbatschow bis Ende 1991 angekündigten einseitigen Abrüstungsschritte waren laut US-amerikanischen Geheimdienst- und Pentagoninformationen im Dezember 1989 bereits zur Hälfte umgesetzt. Ungarn verlangt den Abzug aller sowjetischen Truppen; die Regierungen in Prag und Moskau beginnen mit Verhandlungen über eine entsprechende Forderung der CSSR. In Polen gehen die Diskussionen in dieselbe Richtung. Und auch in der DDR, dem bisherigen Frontstaat des östlichen Bündnisses, verlangen nicht mehr nur die meisten Oppositionsparteien und -gruppen eine Rückkehr der 380.000 sowjetischen Soldaten in ihre Heimat: Vergangenen Freitag plädierte auch das angesehene Ostberliner Institut für Politik und Wirtschaft (IPW) zumindest für ihre umgehende Verringerung um 50 Prozent. Die WVO als handlungsfähiges, schlagkräftiges Militärbündnis existiert nicht mehr.

Keine Antwort in Brüssel

Die Reduzierung der konventionellen Waffen der WVO sowie der in Bündnisstaaten stationierten sowjetischen Soldaten auf das für ein erstes VKSE-Abkommen anvisierte Niveau würde „die Fähigkeit des Osten zu Überaschungsangriffen und raumgreifenden Offensiven beseitigen“, heißt es sogar im Kommunique des letzten Nato-Gipfels im Mai 1989. Doch hat der Westen keine gemeinsame konzeptionelle Antwort auf die neue Entwicklung. In demselben Gipfelkommunique - wie auch in allen offiziellen Nato-Äußerungen seither - wird weiter die Notwendigkeit der „flexible response“ und die Bereithaltung dazu nötiger, modernster atomarer und konventioneller Waffen betont. Erklärungen, die Nato müsse sich auf eine „politische Funktion“ als Plattform zur Koordination von Beziehungen des Westens zum Osten konzentrieren, bleiben Deklamation, während zugleich immer mehr Felder der West-Ost-Kooperation bis zu sicherheitspolitischen Belangen anderswo beackert werden (KSZE, EG-RGW etc.)

Interner Streit

bei Truppenreduzierung

Am deutlichsten zeigen sich Konzeptionslosigkeit der Nato und widerstreitende Interessen innerhalb des Bündnisses derzeit in der Frage von Truppenreduzierungen. In seinem Befreiungsschlag zur Überwindung des Nato-Streits über die atomaren Kurzstreckenraketen bot Präsident Bush im Mai die Reduzierung der US-Truppen in Westeuropa um 30.000 auf 275.000 an, falls die UdSSR ihre in Bündnisstaaten stationierten 600.000 Soldaten ebenfalls auf dieses Niveau verringere. Ohne ausreichende Diskussion wurde dieses Konzept im Juli zum Nato-Vorschlag in Wien erhoben, wo es seitdem auf den Widerspruch vor allem der UdSSR stößt, die eine Verringerung aller ausländischen Truppen, also auch der anderer Nato-Staaten in der BRD verlangt. Ein Ansinnen, das einige Berechtigung hat, wie westliche Unterhändler in Wien intern einräumen. Doch vorläufig bleibt es bei der offiziellen Nato-Position, zumal die Ereignisse der letzten Monate noch mehr interne Widersprüche aufgeworfen haben.

In den USA sind drastische Einsparungen im Pentagonbudget, die nur durch Personalverringerungen vor allem bei der Armee zu erreichen sind, erklärtes Ziel der Bush-Administration. Einflußreiche Stimmen im Kongreß fordern, die US-Truppen in Westeuropa unter einem ersten VKSE-Abkommen bereits um 70.000 Mann zu reduzieren. Zugleich besteht jedoch in Washington und noch stärker in London und Paris die Sorge, ein solcher Schritt zum jetzigen Zeitpunkt könne der mit Argwohn beobachteten Entwicklung hin zu einer deutsch -deutschen Vereinigung Vorschub leisten. Dieser interne Zwist wird wohl noch einige Zeit weiter anhalten, da der Außendruck auf die Nato, in Wien bald eine neue Position zu Personalfragen vorzulegen, nicht so groß ist. Man geht in Brüssel davon aus - und Wiener Unterhändler aus den WVO -Staaten bestätigen diese Einschätzung - daß die Truppenreduzierungen in Osteuropa ohnehin stattfinden. Informell wird innerhalb der Nato bereits erwogen, in Wien eine Wiederausklammerung der Personalfragen aus einem ersten VKSE-Abkommen vorzuschlagen, damit es in diesem Jahr überhaupt noch zu einem Vertrag kommt.

Vorbeugender

Modernisierungsschub

Entscheidender als Art, Umfang und Tempo von Truppenreduzierungen sind für die künftige Lage in Europa jedoch die westlichen Entwicklungen bei Waffentechnologien und Einsatzkonzepten unterhalb der Ebene der als rein defensiv deklarierten offiziellen Nato-Doktrin. „Seit Anfang der 80er Jahre heißt die Richtung mehr mobile Verbände, größere Feuerkraft und Fähigkeit zum präzisen Schlag in die Tiefe des Gegners ('deep strike‘). Militärische Planungen sind zurückgekehrt zur offensiven Kriegsführung mit dem Ziel eines militärischen Sieges der Nato.“ So heißt es in einer am Montag anläßlich des Wiener Seminars in Washington, Brüssel und London vorgelegten Studie des „British American Securtiy Information Council“ (Basic) über die „Nato -Militärdoktrin in den 90er Jahren“. Die vier Autoren, Rüstungsforscher aus den USA, Großbritannien und der BRD zeigen auf, wie stark das „Air Land Battle„-Konzept der USA oder „sein kleinerer Bruder“, das britische „Land Air Concept“ inzwischen die Nato-Einsatzplanungen zumindest im zentralen Bereich bestimmen. Mit zahlreichen Äußerungen führender Nato-Generale aus beiden Ländern wird belegt, wie die Nato sich die künftige Kriegsführung vorstellt. Nicht mehr an die territoriale „Vorneverteidigung“ entlang der gesamten Bündnisgrenze in Zentraleuropa ist gedacht, sondern an den Einsatz hochmobiler Verbände auch auf östlichem Territorium an den Stellen, wo „der Angriff des Gegners erfolgt“.

Es wird bereits in Rechnung gestellt, daß die WVO-Staaten künftig zu einem Angriff auf der ganzen Breite nicht mehr in der Lage sein werden und daß auch auf der eigenen Seite weniger „Manpower“ zur Verfügung steht. Mit der Beschaffung von „intelligenten“ Waffen mit enormer Präzision sowie gegenüber ihren Vorläufern bis zu hundertfach vergrößerter Feuer- und Zerstörungskraft soll dieser „Nachteil“ wettgemacht werden. Unter der Annahme einer künftigen Ost -West-Parität bei Truppen sowie Panzern und anderen Waffenkategorien würde dieser technologische Vorsprung sich erheblich zum Vorteil der Nato auswirken und könnte zu einer Destabilisierung der Lage in Europa führen. Noch gibt es Widerstände - vor allem in den Niederlanden und Belgien. Doch die Bundeswehr geht den Kurs mit.