Wohin mit West-Berlin?

Bedenken gegen Statusveränderungen  ■ G A S T K O M M E N T A R E

Während das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen anerkannt und ihre legitimen Interessen respektiert werden, sind die meisten Politiker in Europa, einschließlich der in den beiden deutschen Staaten darüber einig, daß die unverzügliche Vereinigung Deutschlands unrealistisch ist und seine Teilung mit der Bildung des vereinten Europas überwunden werden muß. Inzwischen sieht es so aus, als ob man in Bonn und West-Berlin beschlossen habe, vor dem Hintergrund und unter dem Vorwand der umfassenden Erneuerung in der DDR die alten Projekte durchzupauken. Nach dem Motto: Wenn's mit der Vereinigung Deutschlands heute hapert, dann wenigstens West-Berlin an die BRD anschließen. Besser der Spatz in der Hand, sozusagen.

Ein Schritt in diese Richtung, nämlich die Forderung, den Westberlinern direkte Teilnahme an den Bundestagswahlen zu ermöglichen, scheint jedoch angesichts der heutigen Entwicklung eher ein Schritt zurück zu sein. Man hat den Eindruck, daß die Herrschaften in Bonn und dem Schöneberger Rathaus darüber besorgt sind, daß West-Berlin, ohne sich von der Stelle zu rühren, dem Osten irgendwie näher geworden ist. Und nun möchten sie gern klarstellen, wo West-Berlin eigentlich hingehört. Wenn aber die Fahrt in Richtung deutscher Einheitsstaat ernst gemeint ist, wozu sich an den alten Fahrplan halten?

Der Hinweis auf die angebliche Diskriminierung der Westberliner klingt da nicht überzeugend. Bleibt man bei den bestehenden Realitäten, muß festgestellt werden, daß es nach wie vor Berlin - die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (nach der westlichen Terminologie „Ost-Berlin“) gibt, deren Einwohner im Mai ihre Vertreter ins oberste Organ ihres Landes, die Volkskammer, frei wählen werden. Und es gibt West-Berlin, das kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik Deutschland ist, sondern einen internationalen Sonderstatus besitzt. Es war nicht die Mauer, die diesen Status geschaffen hat, und ihre faktische Eliminierung beseitigt ihn nicht. Gegen die Entsendung der Westberliner Vertreter in den Bundestag ist nichts einzuwenden, solange das Prinzip nicht verletzt wird, nach dem diese Stadt zur BRD nicht gehört und von ihr nicht regiert werden darf. Selbstverständlich machen es die Aufrechterhaltung und Entwicklung der Verbindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik - auch eine Realität erforderlich, daß Meinungen und Interessen der Stadteinwohner berücksichtigt werden. Schließlich bleibt es der Bevölkerung überlassen zu urteilen, ob und wie die Westberliner Vertreter ihre Aufgaben im Bundestag wahrnehmen. Rein praktisch würde West-Berlin durch Direktwahlen nichts gewinnen. Lohnt es also, um der engen politischen Interessen von gestern willen Streit zu suchen?

Die Sowjetunion ist aufrichtig bestrebt, West-Berlin in die vielfältigen Formen der bi- und multilateralen Zusammenarbeit einzubeziehen. Unter einem einzigen Vorbehalt: Das vierseitige Abkommen vom 3.September 1971 muß eingehalten werden. Oder, um mit Eduard Schewardnadse zu sprechen, lassen wir uns vom Prinzip leiten, nach dem alles, was nicht verboten, erlaubt ist. Hans Modrow spricht von Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zwischen der DDR und West -Berlin auszubauen - auf der Grundlage des vierseitigen Abkommens. Die Hauptstadt der DDR und West-Berlin können dabei sehr wohl zum Ort werden, von dem neue Initiativen der Zusammenarbeit zwischen Ost und West ausgehen können.

Dmitri Tultschinski, Chef der deutschen Abteilung der 'Nowosti'-Presseagentur in Moskau