„Niemand weiß, wann der Vulkan ausbricht“

■ TV-Journalist von „Elf 99“ über Recherchen in der rechtsradikalen Szene der DDR / „Fast täglich Prügeleien zwischen Skins und Punks im Ostberliner Zentrum“ / Heute 18 Uhr Anti-Nazi-Demo am geschändeten Sowjet-Ehrenmal im Treptower Park

Frank Neumann (Pseudonym) ist Autor der Fernsehdokumentation „Im traurigen Monat November - Gefahr des Neonazismus in der DDR“, die am 22. Dezember 1989 in der Sendung „Elf 99“ des zweiten DDR-Fernsehprogramms lief. Der amerikanische Journalist Paul Hockenos hat ihn für die New Yorker Zeitschrift 'Village Voice‘ interviewt und der taz den Text zum Vorabdruck zur Verfügung gestellt.

taz: Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?

Neumann: Es ist die erste Reportage, die das DDR-Fernsehen zu diesem Thema gemacht hat. Wir haben am 8. Novbember Berichte über Hakenkreuzschmierereien und faschistische Parolen an einer Kirche in Erfurt gelesen. Wir sind dort hingefahren und haben herausgefunden, daß das ein 14jähriger Schüler gewesen ist. Wir haben uns gefragt, wie kann so etwas geschehen und hatten unser Thema. Wir haben dann versucht herauszufinden, wieso die Rechten in Thüringen, im Raum Erfurt, Gera besonders populär sind. Wir sind auf weitere Fälle gestoßen, Schüler, die schon im Alter von 7 bis 9 Jahren Hakenkreuze schmieren und auf jüdischen Friedhöfen Grabsteine umwerfen.

Hat die offene Grenze das Problem verschlimmert?

Ja. Denn nun können viel Material, Broschüren, Bilder, Flugblätter, Nazi-Abzeichen, sogar Waffen und Rauschgift leicht über die Grenze gebracht werden. Ich bin davon überzeugt, daß die Rechte in der DDR sich teilweise durch den Handel mit Rauschgift finanziert. Die Faschisten haben jetzt mehr Möglichkeiten, in unserem Land ihr eigenes Kapital zu verdienen.

Was wissen sie über Unterstützung durch westliche Neonazi -Gruppen?

Sie bekommen jetzt bestimmt mehr Unterstützung aus der BRD. Wir haben in unserem Film einen 19jährigen gefragt, der in U -Haft sitzt, weil er Leute zusammengeschlagen hat. Über die Finanzen hat er sich allerdings ausgeschwiegen. Wir haben aber bei unserer Recherche festgestellt, daß Schönhuber um Gera und Erfurt herum schon erste feste Gruppen organisiert hat. Diese Republikaner unterscheiden sich von den Skinheads, weil sie parteiorientiert sind. Ihre Ideale sind die gleichen wie die der REPs im Westen. Die DDR-REPs sind genauso ausländerfeindlich, deutschnational und intolerant.

Und andere Gruppen?

Die Skins haben vor drei Jahren begonnen, sich gleich zu kleiden, gleiche Schuhe, gleiche Hosen, gleiche Haarschnitte. Es kann kein Zufall sein, daß so viele Gruppen gleichzeitig West-Geld besaßen. Normalerweise sind Jugendliche nicht in der Lage, vier- oder fünfhundert Mark zu bezahlen. Es muß also Leute in der BRD geben, die diese Bewegung bewußt unterstützen

Wie kann man die Gruppen unterscheiden?

Die rechte Szene entwickelt sich in verschiedene Richtungen - Skins, Faschos und Neonazis. Die Ideologie ist bei allen ähnlich. Die Gruppe der Neonazis hat sich immer schon an den Faschisten der USA orientiert, einer Bewegung, die dem deutschen Faschismus nahesteht. In kleinem Kreise haben diese Leute, die „deutschen Tugenden“ wie Treue, Ehre, Ordnung und Disziplin hochgehalten. Die Faschos sind eine primitivere Gruppe, sie benutzen die Slogans, die Zeichen und Symbole, haben aber keine Programme. Sie sagen einfach, Hitler war gut, und wollen Angst und Schrecken verbreiten. Die Skinheads schließlich sind eine sehr militante Gruppe, die bei Fußballspielen, aber auch bei Radrennen oder beim Handball in Gruppen von 150 in den Stadien und Sporthallen zusammenkommen und randalieren. Gruppen von Skins prügeln sich besonders im Berliner Zentrum fast täglich mit Punks. Viele Punks trauen sich nicht mehr, allein auf die Straße zu gehen.

Gibt es besondere Eigenarten der DDR-Skins? Nazismus in den Farben der DDR?

Die Skins im Wetsen diskriminieren und bedrohen Türken, Jugoslaven und Griechen, die DDR-Skins machen das mit Vietnamesen, Afrikanern und Kubanern. Es ist die gleiche Mentalität, nur andere Opfer. Die Ausländer werden hier so diskriminiert, daß andere Länder ihre Leute nicht mehr hierherschicken.

Wo sind die organisierten Gruppen am stärksten?

In Berlin kann man von etwa 600 organisierten Skins ausgehen, und ich würde noch etwa 2.000 Sympathisanten dazurechnen.

Warum sind viele der Neonazis nicht einfach ausgereist?

Für die gibt es jetzt keinen Grund zu gehen. Sie bemerken, daß ihre Gedanken jetzt von anderen aufgenommen werden können und den Jüngeren vermittelt werden können. Die warten jetzt auf die Gunst der Stunde, bis die Situation in unserem Land so schwierig wird, daß die eine Partei gründen können. Sie warten auf die Gelegenheit, sich offen zeigen zu können.

Was bedeutet die neue Offenheit für die Organisationen der Faschisten?

Heute, nach rund sechs Wochen, gibt es auch in kleineren Städten mehr Gruppen und Organisationen. Nun können auch die kleinen Gruppen, die bisher kaum Kontakt miteinander hatten, sich treffen. Wo früher drei Personen geredet haben, unterhalten sich jetzt dreißig. Die Gruppen werden größer und es gibt aus der BRD Ermutigungen, Ablegerorganisationen und Ortsverbände der West-Rechten zu gründen.

Dafür haben sie Beweise?

In Thüringen wurde uns das von mehreren Leuten bestätigt. Wir hanem auch einen Untergrund-Brief gefunden, der mit „Gauleiter Berlin-Stadtmitte“ unterzeichnet war.

Gibt es seit der Wende mehr rechte Gewalt auf der Straße?

Seit dem 15. Oktober ist es merkwürdig ruhig geworden. Seitdem habe ich weniger von Gewalt gehört. Die Rechten beginnen sich zu konzentrieren und zu organisieren. Das ist nicht mehr so auffällig wie früher und findet ohne große Auseinandersetzungen statt. Ich denke, daß die, die im rechten Spektrum das sagen haben, jetzt die inneren Strukturen festigen und dem Staat keine Angriffsfläche bieten wollen. Für mich ist das ein brodelnder Vulkan, von dem niemand weiß, wann er ausbricht. Sie haben sich so organisiert, daß niemand glaubt, daß die Rechte die Wahlen beeinflussen könnte. Das ist eine schreckliche Ruhe, eine Ruhe, die zeigt, daß dort sehr genau überlegt wird. Das halte ich für eine ganz große Gefahr.

Ihr nächster Bericht befaßt sich mit Rechtsradikalismus in Ost-Berlin...

Ja, wir machen weiter. Es gibt Leute in den Ministerien, die darüber Bescheid wissen und schweigen. Die versuchen abzuwarten und Zeit zu gewinnen. Es ist erschreckend, daß sie sich der Problematik noch nicht stellen, hoffend, daß die rechte Bewegung nicht weiterkommt. Wir haben aber bemerkt, wie stark sie ist - und das kommt keineswegs nur durch die jetzt offene Grenze, da ist schon viel mehr da.

Interview: Paul Hockenos