Arbeitsämter müssen löhnen

■ Bremer Sozialgericht entscheidet: Volle Arbeitslosenhilfe auch bei unterhaltspflichtigen Angehörigen / Ohrfeige für neues Bundesgesetz: Ungleichbehandlung verfassungswidrig

Bremen (taz) - Der Versuch der Bundesregierung, ein unliebsames Urteil des Bundessozialgerichts zur Gewährung von Arbeitslosenhilfe mit einer Gesetzesverschärfung auszuhebeln, ist offenbar verfassungswidrig. Zu diesem ersten Urteil, das für zahlreiche Bezieher von Arbeitslosenhilfe eine Signalwirkung haben wird, kam jetzt das Bremer Sozialgericht in einem Eilverfahren. Nach Auffassung des Bremer Gerichts ist es „nicht zumutbar“, daß einem Arbeitlosen die Arbeitlosenhilfe mit dem Argument verwehrt bzw. gekürzt wird, er könne ja unterhaltspflichtige Verwandte auf Zahlung verklagen. In einer einstweiligen Anordnung verurteilte jetzt das Bremer Gericht das Arbeitsamt, dem 51jährigen Kaufmann Jürgen P. bis zu einer endgültigen Klärung durch das Bundesverfassungsgericht die volle Arbeitslosenhilfe auszuzahlen. Das Arbeitsamt hatte die Zahlung verweigert und von dem arbeitslosen Jürgen P. verlangt, seinen 27jährigen Sohn auf Unterhalt zu verklagen. Um überhaupt einen solchen Anspruch auf Unterhalt zu haben, hätte Herr P. sich jedoch nach der neuen Bonner Gesetzeslage verpflichten müssen, jedwede - auch berufsfremde- Arbeit anzunehmen. Eine solche Verpflichtung und eine sogenannte „Bedürfigkeitserklärung“ des Arbeitsamtes hatte Herr P. jedoch abgelehnt. Zu recht wie jetzt das Bremer Sozialgericht entschied.

Das Bremer Urteil ist die erste Gerichtsentscheidung über eine umstrittene Bonner Gesetzesregelung. Hintergrund ist die jahrelange Praxis der Arbeitsämter, bei der Zahlung von Arbeitslosenhilfe einen möglichen Unterhaltsanspruch gegenüber Familienangehörigen anzurechnen. Im September letzten Jahres hatte das Bundessozialgericht in einem aufsehenerregenden Grundsatzurteil entschieden, daß die Arbeitslosenhilfe nicht automatisch um diesen - in der Praxis meist nur fiktiven- Unterhalt gekürzt werden darf. Um diese Rechtssprechung zugunsten der Arbeitslosen wieder auszuhebeln, hatte die Bundesregierung im Frühjahr eine auch unter Fachleuten umstrittene Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes erlassen. Danach sollten Arbeitslose wieder ihre Familienangehörigen zur Kasse bitten oder aber auf die Arbeitslosenhilfe verzichten. Gleichzeitig mußten Arbeitslose mit betuchteren Verwandten sich verpflichten, auch berufsfremde Tätigkeiten unterhalb der bisherigen Zumutbarkeitsgrenze anzunehmen, damit sie überhaupt auf Unterhalt klagen konnten. In dieser unterschiedlichen Behandlung von Arbeitslosen mit und ohne zahlungskräftige Verwandte sah das Bremer Gericht jetzt jedoch einen Verstoß gegen den verfassungsrechtlich garantierten Gleichheitsgrundsatz und verpflichtete deshalb das Arbeitsamt zur Zahlung. (AZ S 9 H 275/89).

M.D./Ve.