Was hat der ECU mit der Mauer zu tun?

■ In Straßburg beraten die Staats- und Regierungschefs der Zwölf über die Wirtschafts- und Währungsunion

Auf ihrem Gipfelpalaver in Straßburg wollen sich die zwölf EG-Regierungschefs heute und morgen die umstrittene Wirtschafts- und Währungsunion vornehmen. Das Projekt allein garantiert schon Stoff genug fürs gewohnte Gezänk. Doch durch den Umbruch in Osteuropa bekommt der Familienstreit der Zwölfer-Combo eine neue Dimension. Plötzlich geht es um mehr als Peseten, Francs und Lira. Denn gefragt ist plötzlich ein Konzept für Gesamt-Europa. Wie er auch entscheidet oder nicht entscheidet - dieser Gipfel stelt möglichrweise Weichen für die Zukunft Europas. Gesetzesprojekte im sozialen Bereich bleiben vorerst in der Schublade: Die „Europäische Charta der sozialen Grundrechte“, die „Sozialcharta“ ist bisher von ihrer Verwirklichung weit entfernt, bleibt bloßes Lippenbekenntnis. Es handelt sich dabei um ein sozialpolitisches Schummelmanöver. Zwar führen die Binnenmarktprotagonisten unablässig die soziale Dimension des „Neuen Europas“ im Munde. Am Ende jedoch wird an wirksame soziale Richtlinien nur halbherzig gewerkelt. Und Margaret Thatcher wittert in jeder gemeinschaftlichen Sozialgesetzgebung einen wirtschaftsfeindlichen Akt.

Valery Giscard d'Estaing, früher Frankreichs Präsident, heute Chef der liberalen Fraktion im Europaparlament, plagen offenkundig Zweifel. Ob die EG auf das „Rendez-vous mit der Geschichte“ wohl vorbereitet sei, fragte er sich und seine Zuhörer kürzlich in Straßburg. In der elsässischen Provinzmetropole treffen sich heute und morgen die zwölf Regierungschefs der EG zum großen Palaver über die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Die Entscheidung über diesen Schritt zur Integration EG-Europas gerät durch die Entwicklungen in Osteuropa nun möglicherweise zur Weichenstellung für die Zukunft Gesamt-Europas.

Am Vorabend der Entscheidung über die WWU zeichnen sich zwei Positionen ab: Die einen wollen mit Volldampf auf dem bisherigen Kurs - 1992 grenzenloser Binnenmarkt, bald darauf WWU samt EG-Zentralbank und einheitlicher Währung weiterpreschen. Natürlich würden im Traumhaus EG ein paar Zimmer für die Osteuropäer freigehalten werden. Doch beim Entwurf hätten diese zunächst nichts mitzureden. Die anderen fordern angesichts der historischen Umwälzungen in Osteuropa erst mal eine Pause, um die Entwicklungen im Osten abzuwarten. Gemeinsam solle dann ein neuer Bauplan für das gesamt-europäische Haus entworfen werden.

Eine deutliche Mehrheit der EG-Regierungen setzt auf den ersten Weg. Vor allem dem französischen Präsidenten Fran?ois Mitterrand und dem Präsidenten der Brüsseler EG-Kommission, Jacques Delors, sind jedwede Verzögerung ein Greuel. Zudem macht Delors geltend, daß nur eine starke EG die Power hätte, den bankrotten RGW-Staaten wirtschaftlich unter die Arme zu greifen. Die WWU dürfe daher auf keinen Fall vertagt werden.

Tatsächlich sind die Märkte Osteuropas alles andere als EG -kompatibel. Und sie werden es sobald auch nicht sein. Benötigt doch schon der Zwölfer-Club im Westen Jahre, um unter sich die wichtigsten Normen anzugleichen. Erinnert sei etwa an das zähe Feilschen um Abgaswerte für Kleinwagen. Trabis sind da nicht vorgesehen. Mindestens fünf bis zehn Jahre werde es dauern, so schätzen die Optimisten unter den Brüsseler Europa-Konstrukteuren, bis die neuen politischen und wirtschaftlichen Systeme im Osten EG-Verhandlungsniveau erreichen. So lange habe es schon bei Spanien gedauert. Eine Pause von fünf bis zehn Jahren, das ist Fran?ois, Jacques und den anderen viel zu lange.

Damit scheint die historische Frage nach einem neuen Konzept für Gesamt-Europa beantwortet, bevor sie richtig gestellt ist: Die Annäherung zwischen West- und Ost-Europa scheint den Brüsseler Eurokraten langfristig nur als Adaption des real existierenden Luxus-Kapitalismus der Supermacht EG durch Ost-Europa denkbar. Kurzfristig aber werden die Veränderungen im Osten zwar vollmundig bejubelt, im Grunde aber als Störfaktoren behandelt. Für weitere Unruhe sorgt in Brüssel ein spezieller Aspekt des Wandels im Osten: Die deutsch-deutsche Beziehungskiste. Es wird befürchtet, unter der Deutschen Sucht nach Einheit könne die Leidenschaft des Bonner Ober-Europäers Kohl für die EG leiden. Entgegen aller protokollarischen Sitten lud sich der Bundeskanzler flugs selbst als aktueller Gastredner zur November-Sitzung des Europaparlamentes nach Straßburg ein. Von der deutschen Einheit, so Kohl beschwichtigend zur Straßburger Runde, gehe keine Bedrohung für die EG aus. Das Streben nach der deutschen Einheit und die europäische Integration seien vielmehr „wie die zwei Seiten einer Medaille“. Seine Regierung stehe weiterhin fest zum Binnenmarkt und dem Fernziel der Europäischen Union.

Daran zweifeln die EG-Partner. In einem Brief an Mitterrand hatte Kanzler Kohl die Vollendung der Währungsunion mit mehr Kontrollrechten für das EG-Parlament verknüpft. „Wenn man heute über Institutionen redet, mit dem Ziel, die Diskussion um die Wirtschafts- und Währungsunion auf später zu verschieben, dann soll man das klar sagen“, rügte Delors am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Brüssel den schlechten Schüler - ohne Kohl jedoch direkt beim Namen zu nennen. Das Nahziel von Mitterrrand und Delors für den Straßburger Gipfel: Die Häuptlingsrunde soll eine Regierungskonferenz für 1990 einberufen, die einen neuen EG -Vertrag zur Errichtung der WWU, sozusagen eine „EG -Verfassungsänderung“, ausarbeiten soll. Um den Straßburger Gipfel von der neuen Ost-West-Debatte freizuhalten, hatte Präsident Mitterrand seine Kollegen vor drei Wochen eilig zu einem Ost-West-Sondergipfel nach Paris geladen. Der für 1992 angepeilte EG-Binnenmarkt sieht die völlige Bewegungsfreiheit für Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen vor. Trotzdem müssen Reisende noch - an nicht mehr existierenden Grenzen - ihr Geld umtauschen. Die zwölf EG -Länder hätten immer noch zwölf nationale Währungen, zwölf nationale Notenbanken, zwölf nationale Geld- und Stabilitätspolitiken. Da soll die Wirtschafts- und Währungsunion abhelfen. Die bisherige Rechnungseinheit ECU geriete zu einem echten Zahlungsmittel. Durch die WWU würde die Europäische Gemeinschaft wirtschaftlich zu einem Staat! EG-Fanatiker sehen dann als nächsten Schritt die politische Union, die Vereinigten Staaten von Europa (West).

Der härteste Widerstand gegen die WWU-Pläne kommt wieder einmal aus London. Zwar hat sich Margaret Thatcher auf dem letzten EG-Gipfel in Madrid ein Lippenbekenntnis zur WWU abgerungen. Deren Herausbildung soll jedoch nach ihrem Willen dem freien Spiel der Marktkräfte und dem Wettbewerb der nationalen Währungen überlassen bleiben. Die Kommission, Frankreich, Italien und Belgien jedoch drängen auf die Verabschiedung eines festen Fahrplanes - erste Station wäre die Regierungskonferenz im zweiten Halbjahr 1990.

Thomas Scheuer