Die eurokratische Mogelpackung

Wenn es bei der EG feierlich wird, dann ist größte Skepsis angebracht. Richtlinie oder Verordnung, das klingt bürokratisch und spröde. „Europäische Charta der sozialen Grundrechte“ hingegen, das gibt klangmäßig schon was her. Eben diese Charta wollen die zwölf EG-Regierungschefs auf ihrem Straßburger Meeting feierlich verkünden. Doch der wohltönende Titel tarnt ein sozialpolitisches Schummelmanöver. Die Charta soll die Kritik an der bislang einseitig an den Interessen des Kapitals orientierten Ausgestaltung des Binnenmarktes dämpfen. Zwar führen die Protagonisten des für 1992 angepeilten grenzenlosen Supermarktes dessen „soziale Dimension“ unablässig im Munde und beteuern, am Ende der Rennbahn warte keineswegs ein EG -Europa der Konzerne.

Doch an den sozialen Leitplanken wird bislang so halbherzig wie ergebnislos gewerkelt. Viele Gesetzesprojekte über einheitliche Mindeststandards in den Bereichen Arbeitnehmerschutz und soziale Rechte liegen unerledigt in den Brüsseler Schubladen. Ob Mindestlöhne oder Höchstarbeitszeiten - in keinem Bereich fand der Ministerrat bisher einen gemeinsamen Nenner. „Sozial-Dumping“ scheint angesagt. Bremserin Number one ist die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die in jeder gemeinschaftlichen Sozialgesetzgebung einen wirtschaftsfeindlichen Akt schlechthin wittert. Aber auch die Regierungen Portugals und Spaniens lechzen nicht gerade nach gemeinschaftlichen Sozialnormen. Gelten doch niedriges Lohnniveau und mickriger Arbeitnehmerschutz als Wettbewerbsvorteile dieser Länder. Nun soll also eine goldumrandete Sozial-Charta das arbeitnehmerfeindliche Image des Binnenmarktes aufpolieren. Doch wie feierlich sie auch an diesem Wochenende verkündet werden mag, so unverbindlich wird sie bleiben.

Im Gegensatz zu einer Richtlinie, so heißt ein Gesetz auf EG-Deutsch, kommt dieser Charta keinerlei Gesetzeskraft zu. Manche Experten halten das Papier schlicht für überflüssig: Es bleibt nämlich inhaltlich weit hinter einer bereits vor Jahren vom 23 Staaten umfassenden Europarat verabschiedeten Sozialcharta zurück. Die haben auch alle EG-Länder unterzeichnet. Die Generalsekretärin des Europarates, Catherine Lalumiere, fragte in Straßburg denn auch laut nach dem Sinn der neuen EG-Charta; das Ding stifte ja nur Verwirrung. Zahlreiche Bereiche, wie etwa die schlagzeilenträchtige Sonntagsarbeit, tauchen in der Charta gar nicht erst auf.

Auf seiner Oktober-Sitzung hat der Ministerrat den Entwurf der Kommission weiter ausgedünnt. Selbst gegen diese Wischi -Waschi-Charta hat London einen „allgemeinen Vorbehalt“ zu Protokoll gegeben. Herbe Kritik hagelte es im Europäischen Parlament, das im sozialen Bereich - ebenso wie beim Umweltschutz - traditionell progressivere Positionen einnimmt als Rat und Kommission. In seiner November-Session verabschiedete das Parlament mit 249 zu 14 Stimmen eine Entschließung, in dem die Charta als völlig unzureichend beurteilt wird. Sie wurde in der Debatte quer durch alle Fraktionen zerpflückt. Der Luxemburger Christdemokrat Reding konnte nur eine „schöne, leere Schachtel“ entdecken. Die deutsche Grüne Cramon-Daiber: Der Text des Rates sei eine „Asozial-Charta“. Einige linke Abgeordnete zeigten große Lust, den Konflikt mit dem Ministerrat auf die Spitze treiben: Wenn der Ministerrat weiterhin rechtsverbindliche Maßnahmen im sozialen Bereich abklemme, so schlug etwa der britische Labour-Mann Stephen Hughes vor, dann müsse eben das Parlament seinerseits Richtlinienprojekte im Bereich Handel, Finanzen und Wirtschaft blockieren.

Immerhin fand Hughes Junktim-Antrag Eingang in die genannte Entschließung. Selbst die griechische EG-Kommissarin Vasso Papandreou, in Brüssel zuständig für Soziales, erteilte in der Straßburger Debatte dem Papier die Note „nicht zufriedenstellend“. Damit das soziale Feigenblatt wenigstens von weitem wie ein Lendenschurz wirkt, zauberte die Brüsseler Kommission vor drei Wochen noch schnell ein Aktionsprogramm auf den Tisch. Damit will sie den unverbindlichen „Blankoscheck“ (Frau Papandreou) der Gipfelrunde mit Substanz füllen. In dem Aktionsprogramm listet die EG-Kommission 45 Initiativen auf, welche sie, so Kommissarin Papandreou, „für unerläßlich“ für die soziale Dimension des Binnenmarktes hält. In 18 Monaten, spätestens jedoch in zwei Jahren, sollen die Mitgliedsregierungen Vollzug melden. Die Crux: Das Aktionsprogramm enthält neue Vorschläge für 17 Richtlinien und mehrere Verordnungen. An denen kann sich der Ministerrat dann wieder festbeißen.

Thomas Scheuer