Schizophrenie

Über die demokratischen Defizite in den Organen der Europäischen Gemeinschaft  ■ K O M M E N T A R E

Wäre zum bevorstehenden Jahresende der Europäische Schizophrenie-Preis 1989 zu verleihen - an aussichtsreichen Kandidaten bestünde kein Mangel. Vermutlich müßten sich die 12 Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft den Wimpel mit ihren Bürokraten teilen. Mehr demokratische Substanz, dann erst rollt der Rubel, tönt es den von Reformbewegungen erfaßten Ländern in Osteuropa aus dem freien Westen entgegen. Vergleichen wir also, nur so zum Spaß, mal die gesetzgeberische Potenz der bisherigen Volkskammer der DDR mit derjenigen des Europäischen Parlaments. Geradezu verblüffend, mit welcher Dreistigkeit ausgerechnet die Häuptlinge der Wirtschaftssupermacht EG nun Hausaufgaben in Sachen Demokratie verteilen; ausgerechnet sie, die seit Jahren die Entparlamentarisierung Westeuropas betreiben und die klassische Gewaltenteilung ad absurdum führen!

Da setzen sich in London, Madrid und Bonn Regierungschefs und Minister, also Mitglieder der nationalen Exekutiven, ins Flugzeug und mutieren auf dem kurzen Luftweg nach Brüssel, hoch über den Wolken, zu europäischen Gesetzgebern. Sie erlassen Richtlinien und Verordnungen und verabschieden bindendes Recht für die zwölf Mitgliedsstaaten. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, pro Forma direkt gewählte Volksvertretung für 320 Millionen EG-Menschen, strampeln und zappeln wie Goldhamster im Laufrad, um wenigstens ein bißchen mitreden zu können. Der Traum eines jeden Diktators: Regieren - ungestört von Volk und Volksvertretung! Sollen sich von dieser Eurokratur, Herr Kohl, Monsieur Mitterrand, Mrs. Thatcher, etwa die osteuropäischen Oppositionsbewegungen ein Scheibchen abschneiden? Dann können die Frauen und Männer, die auf dem Wenzelsplatz gegen Milizionäre anrennen, auch gleich zu Hause bleiben.

Sollte die europäische Sozial-Charta, die jene EG -Monarchen, welche hierzulande lauthals die Solidarnosc bejubeln, im Dezember auf ihrem Gipfeltreffen in Straßburg verkünden wollen, in Polen Rechtsgültigkeit erlangen - die Arbeiter der Danziger Lenin-Werft würden sich womöglich nach alten Zeiten zurücksehnen. Der Umbruch im Osten Europas, darin liegt eine riesige Chance, fordert von der EG nicht nur ökonomische Antworten auf die historische Frage: Welches Europa wollen wir? Durch die Opposition im Osten wird das ganze institutionelle Gefüge der EG in Frage gestellt! Lektionen in Sachen lebendiger Demokratie sind in der Tat bitter nötig. Warum also nicht Euro-Funktionäre zu Studienaufenthalten nach Dresden oder Leipzig schicken; oder zum Anschauungsunterricht in den Sejm oder den Obersten Sowjet. Von dessen Kontrollbefugnissen und Gesetzgebungsmacht kann das Europäische Parlament ja nur träumen!

Thomas Scheuer