„Keine Demokratie mit dem Machtmonopol einer Partei“

Ludwig Mehlhorn (39) von der Oppositionsgruppe „Demokratie jetzt“ will eine Prioritätenliste für den Reformprozeß  ■ I N T E R V I E W

taz: Egon Krenz hat erklärt, die SED habe sich an die Spitze der Reformbewegung gestellt. Was bedeutet dieses Festhalten am Führungsanspruch der SED für den Demokratisierungsprozeß?

Ludwig Mehlhorn: Ich glaube, zweierlei. Einmal werden reformwillige Kräfte innerhalb der Partei ihre eigene Sprache finden. Ich kann mir den Reformprozeß in der DDR schwer vorstellen in der Konfrontation mit der SED. Zweitens muß die Opposition Kriterien erarbeiten, anhand derer die Qualität des Reformprozesses gemessen werden kann. Zu diesen Kriterien gehört für mich - und ich glaube, ich kann da für die Mehrzahl meiner Mitstreiterinnen und Mitstreitersprechen -, daß wir nicht stehenbleiben bei der jetzt in Gang gekommenenen Liberalisierung. Die Grundsubstanz jeder Demokratie muß rechtlich verankert werden, der Staat muß strukturell umgebaut werden. Wir brauchen ein Pressegesetz, das auch neue Zeitungen zuläßt; wir brauchen gleichberechtigten Zugang zu den Medien Rundfunk und Fernsehen für alle gesellschaftlichen Gruppen, also auch für die Opposition; wir brauchen ferner ein Demonstrationsrecht, ein Gesetz über Versammlungs- und Organistionsfreiheit, und wir brauchen eine neue Wahlordnung, die mehrere Kandidatenlisten zuläßt, so daß dem Wähler eine Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht wird. Ferner benötigen wir eine Reform des politischen Strafrechtes, schlicht die Streichung der politischen Gummiparagraphen.

Das sind Kriterien, die als Sprechchöre auf den Demonstrationen der letzten Wochen gerufen wurden. Abgesehen von fehlenden längerfristigen Umbaukonzepten - gibt es Vorstellungen über die dringlichsten Wünsche oder Schritte?

Die Opposition wird in den nächsten Wochen eine Prioritätenliste, eine Reihenfolge der Schritte vorschlagen müssen. Die Vorschläge der Partei - Reisefreiheit, mehr Konsumgüter, mehr Umweltschutz usw. - kosten Geld. Die demokratischen Grundforderungen hingegen würden den Staat nichts kosten. Dennoch kann nicht alles von heute auf morgen erledigt werden. Deshalb muß der Prioritätenkatalog mit Zeitangaben für die einzelnen Reformen her. Dann besteht die Möglichkeit, ganz konkrete Forderungen zum Beispiel durch Demonstrationen zu unterstützen.

Das Dresdener Dialog-Modell - eine Anbindung der Gespräche an die Stadtverordnetenversammlung - scheint sich landesweit durchzusetzen. Hältst Du dieses Modell für ausreichend, den Reformprozeß zu stabilisieren?

Es ist gut, daß der Dialog geführt wird, nach Jahren der Unterdrückung von freiem Gespräch. Aber das Dresdener Modell, das Gespräch in ständigen oder zeitweiligen Kommissionen der Stadtverordnetenversammlungen, reicht auf Dauer gesehen nicht. Wir müssen zu einem Modell kommen, das oppositionellen Vertretern ermöglicht, mit einem Mandat in diesem Dialog aufzutreten und nicht als Individuen, die schnell vereinnahmt werden können.

„Demokratie jetzt“ hat einen Volksentscheid über den Führungsanspruch der SED angeregt, Rolf Henrich vom „Neuen Forum“ warnte davor, die in der Verfassung verankerte führende Rolle der Partei „in Frage zu stellen“. Deutet sich hier ein Differenzierungsprozeß innerhalb der Opposition an?

Eine Demokratie kann auf Dauer nicht leben, wenn irgendeine Partei das Machtmonopol besitzt und dies auch noch in der Verfassung festgeschrieben ist. Ich kann nicht für Rolf Henrich sprechen, aber ich vermute, seine Äußerung ist vielleicht fehlinterpretiert worden. Er hat sicher gemeint, eine Plattform wie das Neue Forum stellt durch die Diskussion, die im Rahmen des Neuen Forums geführt werden soll, den Führungsanspruch nicht in Frage. Das ist so. Der Führungsanspruch verschwindet nicht durch Deklarationen. Es wird eines längeren, evolutionären Prozesses bedürfen, in dem wir uns alle verändern - auch die Partei. In diesem Prozeß müßte der SED die Chance gegeben werden, sich innerparteilich hin zu mehr Demokratie zu wandeln. Da bin ich gar nicht so pessimistisch, daß das nicht geschehen wird.

Die „Bürgerbewegung Demokratie jetzt“ ist mit einem lockeren Zirkelwesen zu vergleichen. Nach Berlin organisert sich die Gruppe jetzt auch in anderen Städten. Der „Demokratische Aufbruch“ will sich bis Mai 1990 als Partei konstituieren, die Sozialdemokraten haben diesen Schritt bereits vollzogen. Wie wollt Ihr politischen Einfluß gewinnen?

Wir haben zu diesen Gruppen wie zum Neuen Forum gute Beziehungen. Alle diese Gruppen wollen gegenseitig im Gespräch bleiben. Bei uns als Bürgerbewegung ist der organisatorische Ansatz ein etwas anderer. Ich bin der Meinung, daß die Demokratisierung auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben werden muß. Dazu wird es anderer Parteien als der bestehenden bedürfen. Aber es muß auch eine unabhängige Öffentlichkeit hergestellt werden. Eine Öffentlichkeit, die außerhalb der politischen Parteien funktioniert. Hier sehe ich in der allernächsten Zukunft für die „Bürgerbewegung Demokratie jetzt“ eine große Herausforderung, einen Schwerpunkt für unser Handeln.

Interview: Petra Bornhöft