Der Tag zwischen Erich und Egon

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Am frühen Nachmittag hatten es die geschichtsnotorischen „Tickermeldungen“ verkündet, und schon um 16 Uhr warteten die heute-Nachrichten mit einem Kurzporträt des gestürzten Erich auf, der in seiner Jugend einem saarländischen Travolta der Arbeiterbewegung ähnelte. Schon in der Halbzeitpause des Europacup-Spiels Leningrad gegen den VfB Stuttgart meldete sich Helmut Kohl zu Wort und drückte die Hoffnung aus, der neue SED-Generalsekretär möge nun tatsächlich den Weg der Reformen beschreiten. Während in den aktuellen Redaktionen der Fernsehanstalten die Archive durchwühlt, Sendeabläufe koordiniert und nach den üblichen „Experten“ gefahndet wurde, bereitete sich Egon, der Neue, auf seine TV-Rede um 20 Uhr vor. Immerhin wußten westdeutsche Fernsehzuschauer schon gegen 18 Uhr, daß der langjährige FDJ-Chef und verantwortliche für Sicherheit und Ordnung im Lande zu den wenigen Personen in der SED-Spitze gehört, die „aus dem Stand reden“ können. Das bewies er denn auch in einem ersten „statement“ gegenüber einer DDR -Reporterin, als er, ohne vom Blatt abzulesen, davon sprach, daß es jetzt „Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit“ geben werde, „Arbeit allerdings, die auch Freude machen soll“. In ersten Straßenumfragen von Westreportern wurde klar, daß die meisten DDR-Bürger den Mann lieber arbeitslos sehen würden.

In den heute-Nachrichten des ZDF um 19 Uhr dann der schier endlose Reigen der „Stellungnahmen“ und Meinungsäußerungen, der, wie die fünffache Wiederholung eines Kopfballtores von Rudi Völler in der neunzigsten Minute, zur Feier des Ereignisses immer und immer wieder gezeigt wurde. Dem - zumal krank ans Bett gefesselten Zuschauer blieb bei der Meinungsäußerung des Grafen Lambsdorff nur noch der Griff zur Fernbedienung. Doch auch RTL plus hat inzwischen seinen Mann in Ost-Berlin, der Arbeiter eines Maschinenbaukombinats nach ihrer Meinung über Egon fragt.

Als in der ARD-Brennpunkt-Sendung die ersten Ausschnitte aus Egons Fernsehrede liefen, war Erich fast schon vergessen, aber das Grauen blieb. Mit aufgequollenen Augen las der 52jährige Berufssozialist seinen verquasten SED-Text aus dem Sitz ab und bestätigte eindrucksvoll die Voraussagen der westlichen Auguren, er werde nur ein Übergangskandidat sein. Kurz nach Mitternacht beschäftigte sich eine Expertenrunde im ZDF mit der Frage, wie es denn nun weitergehen solle in der DDR. Das ZDF sollte sich gelegentlich auch einmal fragen, wie es mit seiner aktuellen „Spezial„-Berichterstattung weitergehen soll.

Reinhard Mohr