21-14-33: FRANZ KAFKA

■ Auf der Suche nach einem Autor - Prag 1989

Die Tür unten ist offen. Im düsteren Treppenhaus fällt uns das zarte, streng gegliederte Geländer auf. Jedesmal, wenn wir den Lichtschalter drücken, ertönt ein zweifaches Klacken. Jeder im Haus hört, daß wir das Licht anschalten. Wieviele sehen, daß wir hier fotografieren? Jemand steigt die Trppe hinauf, bleibt stehen. Ja, er wohne hier, in der Prager Bilekgasse, der Bilkova, im ehemaligen Zimmer von Franz Kafka, 4. Etage. Die Schriften seines Vormieters mag er nicht. „Kafka didn't fight for hope.“ Er selbst habe Philosophie studiert, dann „Berufsverbot“ erhalten. In dem auf Englisch geführten Gespräch ist dies das einzige deutsche Wort. Er spricht vom Kampf gegen den genius loci, gegen den immer noch allgegenwärtigen „spirit of Franz Kafka“.

Auch der frühere Besitzer dieses Hauses wehrte sich gegen jenen Geist, als er sich 1942 im Treppenhaus vom vierten Stock herunterstürzte. Das Jugendstilgeländer hatte ihn nicht halten können. Die Gestapo-Männer brauchten ihren Weg in die vierte Etage nicht mehr fortzusetzen. Vielleicht hatten auch sie immer wieder den Lichtschalter gedrückt. Alle im Haus hätten das Klacken gehört, nicht nur das Klacken, so wie jetzt auch unser Gespräch nicht zu überhören ist. Ein Hausbewohner öffnet seine Wohnungstür einen Spalt, schaut nach den Fremden im Flur und schließt sich sofort wieder ein. Litera-Touristen

Kafka hat fast sein ganzen Leben in Prag verbracht, im Kern der Stadt, nur wenige Straßen weit ist er gekommen. Träume, nach Spanien oder Amerika zu übersiedeln, haben sich nie erfüllt. „Dies Mütterchen hat Krallen“ - so Kafka über Prag.

Wir sind nach Prag gefahren, um dem nachzuspüren, was dort noch vom Leben Kafkas zeugt. Immer wieder treffen wir den Typ Litera-Tourist, der sich auf der Suche nach Zeugnissen der Existenz des F.K. von der suggestiven Kraft des Prager Milieus, seiner tschechisch-jüdisch-deutschen Kulturgeschichte verleiten läßt, ganz Prag als Bilderbuch zu Kafkas Leben und Werk zu begreifen. So verwandeln sich die spitzen Türme der Teynkirche, die von jedem Winkel der Altstadt präsent sind, in Pfeile, die sich in die schmale Knabenbrust des kleinen Franz bohren. Die Archive der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, Kafkas langjähriger Arbeitsplatz, können nichts anderes sein als die dumpfem Gerichtskanzleien, die sich im Roman Der Prozeß auf allen Dachböden der Stadt eingerichtet haben.

Mit solchen Augen die „Kulisse Prag“ wahrzunehmen, kann schnell zum Delirium kafkaescum führen, in das jene amerikanische Germanistin, die 1965 auf den Spuren Kafkas unterwegs war, geriet. Sie sah den Schriftsteller schon vor sich und machte zum Beweis ein Foto von einem dunkelhaarigen, hageren Menschen, der gerade um die Ecke ging... Prager Tauwetter

Ein Museum, das an Kafka erinnert, können wir nicht besuchen - es gibt keines, da Kafka lange Zeit für dieses Land nicht existent war. Zuerst in der Zeit, in der Böhmen zum NS -„Protektorat“ gezwungen wurde. Später gilt Kafka als bürgerlich dekadenter Nihilist. Erst nach der Entstalinisierung wird Kafka rehabilitiert und schnell zu einem Symbol für den Prager Frühling. Etliche Kafka -Vorlesungen, Radio- und Fernsehprogramme, Theaterstücke, eine Ausstellung im Prager Museum für Tschechische Literatur kündigen vom Auftauen der stalinistischen Erstarrung. Nach dem Ende des Prager Frühling verschwindet Kafka wieder in der Versenkung. Bis 1977 wird keines seiner Bücher publiziert, und auch heute ist nur ein kleiner Teil seines Werkes in tschechischer Übersetzung erhältlich.

Wenn wir die Prager nach Kafka fragen, hören wir immer die Gegenfrage: „Haben Sie schon die Kafka-Büste gesehen?“ Selbstverständlich, schon beim ersten Rundgang. Die Büste hängt an Kafkas Geburtshaus, das an einer Ecke des prachtvoll restaurierten Altstädter Rings neben der Nikolauskirche steht. Das Gesicht, lebensgroß in schwarzer Bronze, weist sowohl auf das Herz des damaligen Bürgertums, den Altstädter Ring, als auch in die Maiselgasse, ins frühere jüdische Ghetto. Im Auftrag der Regierung wurde die Büste 1965, also in der Tauwetterperiode, vom Bildhauer Karel Hadlick entworfen.

Wir biegen in die Maiselgasse ein, an deren Ende uns die Altneusynagoge, im 13. Jahrhundert entstanden, empfängt. Noch heute wird sie zum Gottesdienst benutzt. Im Innenraum der Synagoge ehrt die Gemeinde eine Reihe von Juden mit „Seelenlämpchen“. In einem Kasten links neben dem Eingang sind sie angebracht. Sie tragen jeweils ein schmales weißes Schildchen mit dem Namen des zu Ehrenden. Einmal im Jahr, am Todestag, glimmt eine Glühbirne oberhalb der Plakette auf und beleuchtet den Namen. „Dr. Franz Kafka“ lesen wir schon in der ersten Reihe dieser Schildchen, direkt hinter dem Seelenlämpchen für den berühmtesten Rabbi Prags, den Rabbi Löw, dem nachgesagt wird, er habe den ersten künstlichen Menschen, den Golem, erschaffen.

Auf der ältesten Brücke Prags, der Karlsbrücke, überqueren wir die Moldau und wandern hoch zum Hradschin. Die großen Burganlagen lassen wir links liegen. Wir sind nur noch ein Teil des Touristenstroms, der sich am Wegweiser „Zlata ulicka“ orientiert und den Weg zum Goldenen Gäßchen beziehungsweise zum Alchimistengäßchen sucht. Am Anfang des weltberühmten Sträßchens erwartet uns ein Cafe. Antiquitätenhändler laden uns in eines der winzigen Häuser ein. Klickende Kameras, Souvenirverkäufer, ein Eisstand kaum ein größerer Gegensatz zu dem, was Kafka in den Landarzt-Erzählungen geschrieben hat, scheint vorstellbar zu sein. Ein unauffälliges schmales Schild am Haus Nummer 22, nur aus nächster Nähe zu entziffern, verkündet in Tschechisch: „Hier hat Franz Kafka gelebt“. Die windschiefe ehemalige Burgwächterbehausung hatte Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, gemietet und dem Bruder zum ungestörten Schreiben einen Winter lang überlassen. In zwei Fenstern des Hauses liegen Bücher aus - keines ist von Kafka.

Wir sind zum Neuen Jüdischen Friedhof im Prager Ortsteil Strasnice gefahren, vier U-Bahn-Stationen vom Wenzelsplatz entfernt. Schon am Eingang des Friedhofs, gegenüber von Papierfabrik und Busbahnhof, überrascht uns ein großes Schild mit Richtungspfeil: „Dr. Franz Kafka 21-14-33“. Wir hatten uns auf eine lange Suche auf dem parkähnlich angelegten Friedhof eingestellt. Dank dieser Angabe der Grabnummer gelangen wir schnell zum Ziel. Ein kleiner, nicht mehr ganz frischer Blumenstrauß schmückt das weiße hohe Grab.

Es fängt an zu regnen. Zwei Studenten huschen in Regenmänteln über den Friedhof, stoppen kurz bei 21-14-l33 und treten den Rückweg an. Die hebräische Inschrift auf dem Grabstein läßt uns Unkundige verständnislos. Zu Hause suchen wir dann die Übersetzung der Inschrift: „Dienstag, Beginn des Monats Siwan 5684. Der obgenannte, prachtvolle, unvermählte Mann, unser Lehrer und Meister Anschel (jüdischer Vorname Kafkas) seligen Andenkens, ist der Sohn des hochverehrten R. Henoch Kafka. Sein Licht möge leuchten. Der Name seiner Mutter ist Jettl. Seine Seele möge eingebunden sein in den Bund des Lebens!“ Wichtige Motive der Biographie Kafkas zeigen sich in diesen Sätzen: die lebenslange Rolle des Sohnes, das Junggesellentum und die jüdische Religion.

Die einzige Prager Gedenkfeier zum 100. Geburtstag Kafkas 1983 - fand am Grabe auf dem Neuen Jüdischen Friedhof statt. Der Rat der jüdischen Religionsgemeinden hatte sie organisiert. An der Fensterscheibe des Pförtnerhauses des Friedhofs sind die Schutzumschläge von zwei Bänden Kafkas Erzählungen in deutscher Sprache angeklebt. Darunter lesen wir eine kleine, handgeschriebene Notiz, in welcher Buchhandlung Prags dieses Werk vorrätig ist. Vom Pförtner kann man nur Postkarten von Kafkas Grab kaufen.

Solvejg Müller