„Wo gibt's den Schlüsselfür die Laube?“

Als „Beiwohner“ von Tür zu Tür - neue Art von City-Nomaden in Frankfurt unterwegs / Schon jetzt gehört jeder vierte Wohnungslose zu den 18- bis 25jährigen, während die Obdachlosenstatistik überaltert ist / Punks machen Zeltcamp zur provisorischen Bleibe / Oft nur drei Quadratmeter Wohnfläche für Studenten  ■  Von Rainer Kreuzer

„Hey, kann ich heute nacht bei dir pennen?“ fragt ein junger Mann mit rot gefärbten Haaren und Irokesenschnitt. Er habe „keine Bude“, erklärt er, und „draußen, da hat's gerade geregnet“. Seine Stimme wird leiser. Bisher habe er noch immer einen Schlafplatz bei Freunden gefunden. Doch viele aus seinem Bekanntenkreis hätten mittlerweile selbst ihre Wohnungen verloren, und bei anderen - nun, da sei die Gastfreundschaft wegen Überfüllung mit seinen Schicksalsgenossen an ihre Grenzen gestoßen.

Eine neue Welle Obdachloser überrollt die Sozialarbeiter Frankfurts. Und ihre Klientel wird immer jünger. Inzwischen ist fast jeder vierte, der beim Beratungsdienst für Männer größte aller Frankfurter Beratungsstellen für Obdachlose anklopft, zwischen 18 und 25 Jahre alt. Drei Jahre zuvor war das erst jeder sechste. Neun von zehn der „jungen Erwachsenen“, die bei der Stelle um Hilfe nachfragen, haben im Laufe des gleichen Jahres ihr Dach über dem Kopf verloren. Die Tendenz steigt somit steil.

Daß der klassische Tippelbruder nur mehr eine Randerscheinung ist, darin sind sich alle von der Obdachlosenhilfe einig. An Bedeutung hingegen gewinnt die latente Obdachlosigkeit, also der Personenkreis jener, zumeist Jüngerer, die als „Beiwohner“ oder bloß als Schlafgäste von Bekannten zu Bekannten ziehen.

Laubenschlüssel

zirkulieren in der Szene

Bei Babs und Carlos, die gemeinsam in einer 40 Quadratmeter kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Bockenheim hausen, sind schon seit einem Jahr im Durchschnitt fünf ständig wechselnde Beiwohner zu Gast. Auf Dauer wolle sich bei ihnen zwar niemand niederlassen, berichtet Babs, doch wenn der eine geht, komme am nächsten Tag gleich der nächste, der von seinem Vorgänger über den freigewordenen Schlafplatz erfahren hat. Meist in wöchentlichem Turnus wechselten ihre Schlafgäster. Aber „nicht, daß die gehen, weil sie eine eigene Wohnung gefunden hätten“, bedauert Babs, sondern „die meisten gehen dann zu anderen Leuten, um nicht ständig den gleichen zur Last zu fallen“.

Etliche Wohngemeinschaften mit jüngeren Bewohnern sind in Frankfurt mittlerweile nachts mit umherschweifenden Schlafgästen überladen. Fensterlose Dachkammern werden zu Matratzenlagern umgerüstet, um dem immer größer werdenden Bekanntenkreis an Wohnungslosen eine Bleibe bieten zu können. Besenkammern und Flure sind als Notquartiere eigerichtet, Hängematten an den Wänden befestigt. Auch die Lauben in den Schrebergärten von betuchteren Eltern sind längst nicht mehr unbewohnt. Die Ersatzschlüssel zu den Hütten am Stadtrand sind begehrt und zirkulieren in der Szene von Hand zu Hand.

„No Future“ - für Punks

weit mehr als nur ein Spruch

Nach den Erfahrungen verschiedener SozialarbeiterInnen in den Frankfurter Beratungsstellen beginnt der typische Einstieg in die Obdachlosigkeit bereits mit dem Auszug aus dem Elternhaus. 18jährige in Arbeiterfamilien, die sich immer noch mit ihren jüngeren Geschwistern ein gemeinsames Kinderzimmer teilen müssen, packten bei der ersten Gelegenheit ihre Koffer und nähmen jede provisorische Bleibe woanders in der Stadt an. Ebenso Jugendliche, die wegen Streits mit ihren Eltern einen kurzfristigen Auszug beschließen. Wenn die erste Wohnung oder Unterkunft, wie es nicht selten geschieht, nach kurzer Zeit verloren geht, gingen sie zunächst zu Freunden. Und wenn sie dort nach einiger Zeit nicht mehr unterkämen, „machen sie Platte“, das heißt, sie schlafen im Freien.

Im Unterschied zu Leuten aus seiner Generation, so ein Sozialarbeiter, die Anfang der siebziger Jahre noch mit „euphorischem Blick in die Zukunft“ ihr Elternhaus verließen und in Wohngemeinschaften ein „einfaches Leben“ als politische Perspektive probten, stünde der „jungen Generation von heute“ solche Perspektive längst nicht mehr offen. Bestehende Wohngemeinschaften suchten meist nur noch „berufstätige Mitbewohner ab 30“. Und zur Gründung neuer Wohngemeinschaften gäbe es kaum noch erschwingliche Angebote, kritisiert er. So sei heute der Ausstieg aus dem „Establishment“ eine zunehmend riskante Gratwanderung hin zum sozialen Abstieg.

Was für Frankfurt zutrifft, beobachtete die Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenhilfe (BAG) in letzter Zeit bundesweit: Zunehmend gerieten Punks in die Obdachlosigkeit, nicht zuletzt deshalb, weil sie aufgrund gesellschaftlicher Stigmatisierung noch weit größere Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt hätten als andere Jugendliche. Sie seien „der nicht zu übersehende Ausdruck der in den letzten Jahren zugenommenen Wohnungsnot, die sich in Zahlen in der Vermehrung alleinstehender Wohnungsloser von 70.000 im Jahre 1978 auf rund 120.000 zehn Jahre später ausdrückt“, schreibt das BAG-Magazin 'Gefährdetenhilfe‘ in der Ausgabe 2/1989. „No Future“ sei somit aus einer „Philosophie für die erste Generation der Punks“ zur Realität der nun dritten Generation geworden.

Angesichts solch trister Perspektiven halten die Betroffenen nicht länger still. Aufsehen erregte die Frankfurter Obdachlosen-Initiative „Schneller Wohnen“ mit einem Zeltlager in einer Parkanlage, dem Solmspark im Stadtteil Rödelheim. Bereits Ende Mai schlugen etwa 30 zur Punkszene gehörende Wohnungslose dort ihre Zelte auf und richteten sich auf einen Verbleib bis zum Anbruch des Winters ein. „Bis dahin müssen wir ganz einfach Wohnungen haben“, lautet ihre Forderung.

Als „Skandal“ betrachten es die Mitglieder von „Schneller Wohnen“, daß nach ihrer Zählung gegenwärtig 60 Häuser in der Stadt leer stehen, davon allein acht in städtischem Besitz. Während an den zahlreichen Baustellen Frankfurts auf überdimensionierten Schriftwänden neu enstehende Büros offeriert würden, „bleibt uns bloß nur noch das Zelt zum Wohnen“.

Als politische Option fassen sie deshalb auch Hausbesetzungen ins Auge, „als Notwehr gegen die Obdachlosigkeit“, so der Camper Freden. Sie sollten dann jedoch über Verhandlungen mit der Stadt wieder realpolitisch legalisiert werden. An Auseinandersetzungen mit der Polizei bestünde bei ihnen keinerlei Interesse, weil sie mit ihrer Notwehrhandlung nichts anderes als die Absicht zum kollektiven Wohnen und Arbeiten verfolgten. In den letzten Jahren wurden ja in Frankfurt Hausbesetzungen bereits nach wenigen Stunden von der Polizei zum Teil mit brachialer Gewalt beendet.

Angesichts des neuen rot-grünen Magistrats hoffen die Hausbesetzer in spe nun auf zivilere Umgangsformen mit den Behörden.

Neueste Statistik

ist sechs Jahre alt

Von der drastischen Zunahme junger Obdachloser ist die neue Frankfurter Sozialdezernentin Christine Hohmann-Dehnhardt (SPD) zwar alarmiert, über deren Ausmaß und Struktur jedoch weiß sie so gut wie nichts. Denn die immer noch aktuellste Statistik über „die Situation der alleinstehenden Wohnungslosen“ wurde bereits 1983 erstellt. „Das ist auch der Stand meines Wissens. Ich kann Ihnen nichts sagen, was über das Papier hinausgeht“, gesteht ihr persönlicher Referent Klaus Arzberger und „vermutet“, daß das Problem in den vergangenen sechs Jahren noch größer geworden ist.

Ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber den staatlichen Sozialbehörden vor allem bei den Jüngeren führe dazu, daß ein Großteil der Obdachlosen „als offene Problemfälle gar nicht mehr in Erscheinung tritt“, so Arzberger. Sofern Personal und Finanzen ausreichten, fasse er deshalb eine möglichst umfassende Zählung der Obdachlosen ins Auge, die über Befragungen der offensichtlich Betroffenen hinausgehe und auch die verdeckten Fälle ermitteln solle.

Wie untauglich die statistischen Informationen der Sozialbehörden geworden sind, zeigt sich an der konstanten Zahl von offiziell ungefähr 3.000 Obdachlosen, die das Sozialamt schon jahrelang immer wieder meldet. Doch bloß rund die Hälfte all jener, die die verschiedenen kirchlichen und staatlichen Beratungsstellen für Obdachlose aufsuchen, nehmen überhaupt die Hilfe des Sozialamtes in Anspruch. Der Rest jobbt, bettelt, bezieht Leistungen vom Arbeitsamt oder ist unter der Rubrik „Sonstige Einnahmen“ verzeichnet. Außerdem zählen zu den jüngeren Wohnungslosen zahlreiche StudentInnen, für die das Sozialamt ohnehin nicht zuständig ist.

Vier Bewohner

auf acht Quadratmetern

Hinter den tristen Betonwänden der Studentenwohnheime verbirgt sich denn auch eine weitere Grauzone der neuen Obdachlosigkeit. In den zumeist acht bis zwölf Quadratmeter großen Wohnzellen des Studentenwerks finden nicht selten drei oder gar vier Studenten notdürftig Platz. In erster Linie ausländische Kommilitonen - die im Unterschied zu den deutschen zwei Jahre auf die Vergabe eines Wohnheimplatzes warten müssen - geraten in die Zwangslage, ihre Schlafsäcke in den Miniaturzimmern ausrollen zu müssen.

Für das kommende Wintersemester erwartet die evangelische Studentengemeinde 6.000 wohnungssuchende Studenten. Viele werden dann wieder wie in den vergangenen Jahren zumindest vorläufig in Jugendherbergen, im eigenen Pkw oder auf dem Campingplatz nächtigen müssen. Das Studentenwerk, das seit Mitte der siebziger Jahre trotz steigender Studentenzahlen den Ausbau von Wohnheimplätzen völlig vernachlässigt hatte, kündigte nun an, bis zum nächsten Sommer zwölf Holzfertigbau -Häuser mit je 24 Zimmern zu errichten. Bereits zum September sollen für 70 Studenten neugebaute Sozialwohnungen einer städtischen Wohnheimgesellschaft einzugsfertig sein. Jedoch nicht für jene, die von außerhalb kommen, sondern nur für diejenigen, die mindestens vier Jahre in Frankfurt gemeldet sind. So sieht es die Verwaltungsvorschrift zur Vergabe von Sozialwohnungen vor.

Absichtserklärungen

statt konkreter Programme

SPD und Grüne haben in ihrem Koalitionspapier die Absicht festgeschrieben, ein Programm „Wohnungen für Wohnsitzlose“ zu erarbeiten und speziell die Obdachlosigkeit unter Jugendlichen zu bekämpfen. Konkrete Maßnahmen indes wurden bisher nicht beschlossen. Auch bei den Grünen finden sich „keine eigenen Konzepte“, wie die zuständige Stadtverordnete für Soziales, Beate Collin, erklärte. Die Grünen unterstützten allerdings „jegliche Initiative für selbstbestimmtes Wohnen und Arbeiten“. Ein global formuliertes Statement.