Die Labour-Party, Rushdie und die moslemischen Wähler

Am 14. Februar dieses Jahres stieg Salman Rushdie zusammen mit seiner Frau in ein Polizeiauto, um der Morddrohung des Ayatollah Chomeini zu entfliehen. Seitdem soll er nicht weniger als 56mal die Unterkunft gewechselt haben. Zunächst konnte Rushdies Frau, die amerikanische Schriftstellerin Marianne Wiggins, immer mal wieder nach Hause, um Kleider und Bücher zu holen. Ab und zu tauchte das Ehepaar auch auf Dinnerparties oder bei Freunden auf. Einmal auch bei dem Labour-Abgeordneten Michael Foot, bei dem sie dessen Parteivorsitzenden Neil Kinnock trafen.

Seit März ist das vorbei. Es gibt keine Kinobesuche, kein Einkaufen, keine Begegnungen mit Freunden mehr. Als einzige Gesellschafter haben sie die ihnen von Margaret Thatcher gestellten Bodyguards. Es gibt kein Radio, kein Fernsehen für die beiden. Rushdies Agent Gillon Aitken ist der einzige, über den die beiden noch Post erreicht. Doch nicht einmal er weiß, wo sie sind, und kann nur alles an die Polizei weiterleiten. Aitkens Standardantwort an neugierige Journalisten: „Kein Kommentar, wirklich kein Kommentar. Ich habe keine Genehmigung, Ihnen mehr zu sagen.“

Als im März Norman Mailer, Susan Sontag und viele andere amerikanische Autoren in New York eine ganze Nacht lang aus den Satanischen Versen lasen, um so der Morddrohung Chomeinis entgegenzutreten, erfuhr das Objekt ihrer Solidarität erst zwei Wochen später davon.

Marianne Wiggins hat jetzt über Mittelsmänner ein erstes Interview gegeben. Ein paar wenige Sätze gegenüber dem 'Sunday Telegraph‘, sie und ihr Mann läsen voller Begeisterung die großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts: Rousseau, Paine, Diderot und Voltaire. Rushdie arbeite an einem Kinderbuch.

Chomeini ist tot, doch die Morddrohung ist nicht aufgehoben, sie wurde wiederholt. Trotzdem beginnt in England der Kampf um Wählerstimmen wichtiger zu werden als die Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Taschenbuchausgabe

Ja oder Nein?

Neil Kinnock, der zunächst nichts über sein Treffen mit Rushdie gesagt hatte, brach zwar sein Schweigen und erklärte seine volle Unterstützung für Rushdie. Doch das brachte einen anderen führenden Labour-Politiker, Roy Hattersley, so auf, daß er öffentlich in der Tageszeitung 'Independent‘ Rushdie und seinen Verlag aufforderte, doch ja keine Taschenbuchausgabe von dem Buch herauszugeben. So könne man sein Bedauern über die den Moslems angetane Beleidigung zum Ausdruck bringen und ihren Zorn besänftigen. Der bekannte Bühnenautor Arnold Wesker antwortete mit einem Plädoyer für das Recht auf Beleidigung (nachzulesen in der taz vom 3.8.).

Doch für viele Labour-Politiker geht es nur noch um Wählerstimmen. Denn viele Moslems wählen traditionell Labour als eine antikoloniale Partei. Keith Vaz, praktizierender Katholik und Labour-Abgeordneter für Leicester East, sowie Max Madden, Labour-Abgeordneter für Bradford West, erklärten, wenn ihre Partei sich nicht klar für einen Stopp des Rushdiebuches ausspreche, könne das zehn Sitze bei den Wahlen kosten. Darunter - das vergaßen sie zu erwähnen ganz sicher ihre eigenen. Sie kommen aus moslemischen Hochburgen.

In einem Gespräch mit Bernie Grant, dem Labour-Abgeordneten von Tottenham (auch er einer, der auf die Stimmen rabiater Moslems auf keinen Fall verzichten will), soll Neil Kinnock gesagt haben: „Ich habe keine Sympathie für Keith Vaz‘ Position. Er kennt meine Ansicht: Meine Religion ist die Freiheit. Darum habe ich erklärt, daß zwar jede Beleidigung zu bedauern ist, aber niemand soll wegen der Veröffentlichung eines Buches bedroht oder unterdrückt werden. Es gibt keine Parteimeinung zu diesem Problem, aber ich werde vor Bücherverbrennern keinen Kotau machen.“

In seiner Partei macht sich derweil eine Umkehrung der Begriffe breit. „Intoleranz“ wird neuerdings die Veröffentlichung der Satanischen Verse genannt - und nicht deren Boykott. Da ist zum Beispiel der Abgeordnete Madden, der Rushdie mehrfach dazu aufgefordert hat, sein Buch aus dem Verkehr zu ziehen: „Es gibt ein beängstigendes Ausmaß an Intoleranz seitens einiger Leute in der Labour -Party. Glücklicherweise sind es nur sehr wenige.“ Nein, schade - ist man versucht zu sagen.

Die meisten Labour-Parlamentarier drücken sich in der Tat vor einer klaren Haltung, um ihre moslemischen Wähler nicht zu verschrecken. So verweigerte eine Reihe von Abgeordneten, als der 'Independent‘ sie zu Rushdie befragte, jede Auskunft. Clare Short, Labour-Abgeordnete für Birmingham Ladywood, erklärt dagegen in aller Deutlichkeit: „Es ist ein gutes Buch; es wurde falsch präsentiert. Es ist unbedingt erforderlich, daß es gebunden, als Taschenbuch, in jeder möglichen Form herauskommt. Wenn wir all die Bücher, die Christen, Agnostiker, Atheisten, Buddhisten, Moslems, Hindus, Sikhs beleidigten, nicht gedruckt hätten, gäbe es keine Bücher in Großbritannien. Ich denke, die britischen Moslems fühlen sich wegen anderer Dinge verletzt. Sie sind voll im Recht, wenn sie von den britischen Institutionen Respekt verlangen, aber sie sind völlig im Unrecht, wenn sie ihren Unmut auf Rushdies Buch konzentrieren.“

Der Abgeordnete für Tottenham, Bernie Grant, Vorsitzender des Ausschusses für Fragen der farbigen Einwanderer im Unterhaus, erklärte: „Das Buch hat den Rassisten erlaubt, ihre Angriffe auf die Moslems zu legitimieren.“ Aber die Einwandererverbände außerhalb des Abgeordnetenhauses haben ihm widersprochen und sich für die Taschenbuchveröffentlichung der Satanischen Verse ausgesprochen.

Max Madden erklärt das Schweigen des Abgeordnetenhauses sicher ganz richtig so: „Die große Mehrheit der Konservativen und die große Mehrheit von Labour hat das Maul gehalten, sich abgeduckt und gehofft, das Unwetter zieht vorbei. Darum wollen sie keine Debatte im Unterhaus. Es geht darum, wie aus Großbritannien ein Staat mit vielen Rassen und vielen Religionen wird. Wenn es sich in dieser Richtung entwickeln soll, dann muß Großbritannien ein hundertprozentig weltlicher Staat werden, und alle Religionen müssen respektiert werden.“

„Du sollst alle Götter ehren“

Im britischen Recht gibt es einen Blasphemieparagraphen nur für das Christentum. Die moslemische Forderung, der sich viele Politiker anschließen, lautet auf Gleichstellung der Religionen, also etwa: „Du sollst alle Götter ehren.“ Daneben gibt es den Vorschlag, den Blasphemieparagraphen ganz zu streichen und statt dessen die „Beleidigung religiöser Gefühle“ unter Strafe zu stellen. Eine Regelung, die zwar die leidige Gottesfrage umgeht, aber den Empfindungen berufsmäßig beleidigter Leberwürste in Talar und Kutte - wie wir in der Bundesrepublik sehen - Tür und Tor öffnen. Arnold Weskers Eintreten für das „Recht auf Beleidigung“ ist da eine einsame Ausnahme. Ich fürchte, nicht nur in Großbritannien.

Ein Kommentator schrieb im Londoner 'Independent‘: „Eine der bemerkenswertesten Seiten der Rushdieaffäre ist, daß die britischen Moslems den Roman eines nichtpraktizierenden Moslems als eine größere Gefahr für den Islam betrachten sollen als all die mörderischen Taten, die im Namen des Islam im Iran, Irak, Libanon und in Afghanistan begangen werden.“ Bemerkenswert ist es sicher, aber ganz und gar nicht exzeptionell. Wir kennen das aus unserer christlichen Tradition nur zu gut. Hitler wurde nie aus der katholischen Kirche exkommuniziert. Wehe aber, er wäre verheiratet gewesen und hätte sich scheiden lassen!

Inzwischen ist ein Buch über die Rushdieaffäre erschienen, das eine Reihe von Äußerungen bekannter und weniger bekannter Personen sowie alle Statements Rushdies und der iranischen Führung sammelt: The Rushdie File, herausgegeben von Lisa Appignanesi und Sara Maitland (siehe taz von vorgestern). Das Buch mußte, da der ursprüngliche Verleger kalte Füße bekam, beim Kleinverlag „The Fourth Estate“ erscheinen. Der Verlag teilt mit, daß die Erstauflage schon vergriffen ist - einen Monat nach Erscheinen. Und daß bis jetzt keine einzige Drohung beim Verlag eingegangen ist.

Suche nach einem Verlag

Ein weiteres Buchmanuskript zum Fall Rushdie, verfaßt von Daniel Pipes, einem ehemaligen Beamten des amerikanischen Außenministeriums, ist auf der Suche nach einem neuen Verlag. „Harper & Row“, der renommierte New Yorker Verlag, der zum Imperium des Pressezaren Rupert Murdoch gehört, hatte seinen Autor Daniel Pipes gebeten, ein Buch zum Fall Rushdie zu schreiben. Am 8.Mai wurde ihm ein Vertrag für ein Buch mit dem Titel Der Ayatollah, der Romancier und der Westen angeboten. Pipes hatte, als er den Vertrag erhielt, das Buch schon fast fertig, so daß er drei Wochen später sein Manuskript abgeben konnte. Am 23.Juni wurde Pipes von einem Verlagsvertreter angerufen, der ihm mitteilte, man trete von dem Vertrag zurück, da das Buch sich sicher nicht verkaufen werde. Pipes‘ Buch dokumentiert nicht nur, sondern er wirft dem Westen vor, nicht klarer und eindeutiger reagiert zu haben. Wahrscheinlich wird wieder ein kleiner, vielleicht wieder ein kleiner linker Verlag einspringen und das Buch veröffentlichen müssen. Wenn die Riesen zittern, müssen die Zwerge in die Schlacht.

Zu hoffen gibt, daß Rushdie in einem Telefonanruf berichten konnte, er habe zahlreiche Solidaritätsschreiben von Moslems inner- und außerhalb Englands bekommen.