Das Ende der Atomisierung

Die Streiks in Sibirien und das neue Selbstvertrauen der Kumpel  ■ K O M M E N T A R

Platz des Sieges“ und „Prospekt des Bergarbeiters“ heißen die öffentlichen Orte, an denen das vielbesungene Subjekt des Arbeiterstaats in Prokopjewsk, Kisseljowsk, Meschdureschtschensk und anderen Orten des Kusbass-Gebiets nun doch noch sein Haupt erhoben hat. Viele Prognosen gingen in den letzten Jahren vom Desinteresse der sowjetischen Arbeiter an der politischen und ökonomischen Umgestaltung des Landes aus. Daß in Sibirien nun über 80.000 Beschäftigte der Kohleindustrie ein Dauer-Meeting veranstalten, deutet vor allem auf eines hin: Seit den 70er Jahren hat sich Bedeutendes innerhalb dieser sozialen Gruppe verändert. Damals galten sozial abweichendes Verhalten wie die Flucht in den Wodka und die „Abstimmung mit den Füßen“ als Hauptprotestformen des sowjetischen Arbeiters, und den Schätzungen westlicher Experten zufolge verließen etwa 25 Prozent von ihnen jährlich aus Unzufriedenheit ihren Arbeitsplatz. Heute zeigt sich die Bereitschaft der Arbeiter, auszuharren und die eigenen Geschicke an Ort und Stelle in die Hand zu nehmen, ja, es macht sich sogar ein überschwengliches Selbstvertrauen bemerkbar. In Meschdureschtschensk gab man dem Minister für Kohleindustrie Bescheid: „Wir wissen, daß Sie nicht besonders viel ausrichten können, geben Sie uns als Wichtigstes die wirtschaftliche Selbständigkeit, alles andere werden wir uns selbst nehmen und erarbeiten!“ Mit dem chronischen Arbeitskräftemangel in der sowjetischen Wirtschaft ist es heute vorbei. Dies hat zu solch gewachsenem Selbstbewußtsein gewiß ebenso beigetragen wie die Tatsache, daß die Zahl der technisch qualifizierteren Arbeitskräfte zugenommen hat, die besonders schmerzlich erfahren, daß mit einem höheren Lohn in diesem Staat noch bei weitem kein höheres Warenangebot zugänglich wird.

Der Alltag an der Peripherie, weit entfernt von den sowjetischen Großstädten läßt sich nur indirekt aus den materiellen Forderungen der Streikenden erschließen: Ein Handtuch und 800 Gramm Seife im Monat auf Betriebskosten, Kantinen, deren Öffnungszeiten den Arbeitsschichten entsprechen, eine bessere Gesundheitsvorsorge mit anständig bezahlten Ärzten und Schwestern und schließlich eine menschliche Umwelt, deren Antlitz nicht einer Mondlandschaft gleicht, die Versorgung mit sauberem Wasser gehören dazu. Mit den lokalen Fabrikdirektoren und der Parteibürokratie läßt sich nichts erreichen. Dieser bitteren Erfahrung entspricht die Forderung der Streikenden, diese Probleme vor dem Obersten Sowjet zu verhandeln. Der aus Moskau herbeizitierte Minister für Kohleindustrie offenbart, wie hoffnungslos bürokratisch vernetzt die ganze Sphäre der Kohle- und Schwerindustrie ist: Von Streikort zu Streikort verzögert sich seine Reiseroute mehr durch Telefonate, Abstimmungen und Konsultationen mit „Stellvertretern, Leitern und Funktionären“.

In einem Staat, in dem wirtschafliche Einzelfragen so stark von der politischen Ebene der Partei aus bestimmt werden, ist es unwahrscheinlich, daß in diesem Zusammenhang nicht auch politische Forderungen laut wurden. Die zentrale sowjetische Presse schweigt sich über diesen Aspekt des Geschehens aus. Ansonsten ist die Berichterstattung, zum Beispiel in der 'Prawda‘ und in der 'Sowjetskaja Rossija‘ loyal, hebt die Legitimität der Forderung hervor und lobt Disziplin und „Zurückhaltung“ der Streikenden. Zur Entschärfung der Situation tragen auch die offiziellen Gewerkschaften ihr Schärflein bei, die sich - bei aller Distanzierung von der Streikform - mit den Forderungen solidarisch erklären und öffentlichen Verkehr und Lebensmittelversorgung an den Streikorten organisiert haben. Ein polnisches Modell steht vorerst nicht ins Haus. Ob sie nun „abwiegeln“ wollen oder nicht, das Verhalten von Presse und Gewerkschaften deutet auf einen nicht mehr rückgängig zu machenden Wandel in der sowjetischen Gesellschaft hin. Solidarität zwischen Individuen, auch wenn sie von unten kommt, wird nicht mehr als subversiv betrachtet: Auch der sowjetische Arbeiter ist mehr als ein Atom.

Barbara Kerneck