RETTET DIE VORHAUT!

 ■  Der erste Schnitt ist der tiefste

Ein Text, den man kaum lesen kann, ohne daß es einen des öfteren schmerzhaft durchzuckt: Heathcote Williams‘ Aus den Vorhautakten, den Werner Pieper, ergänzt mit Material zum Thema Beschneidung, herausgegeben hat. „Beschneidung bedeutet die Entfernung eines großen Teils der Haut, die den Penis bedeckt, eingeschlossen jenes Hautlappens, dem Frenum, Sitz einer Drüse, dem sensibelsten Teil dieses Organs, der der Klitoris der Frau entspricht“ - wer die Verstümmelung männlicher Kleinkinder für ein archaisches Kuriosum anderer Kulturkreise hält, wird schnell eines besseren belehrt: „Beschneidung ist ein massiver Hieb unter die Gürtellinie, von dem man sich nie wieder erholt und wobei kaum ein Ringrichter je ein Foul konstatiert. Es ist ein weitverbreiteter Brauch unter notorisch aggressiven Völkern: Neunzig Prozent der Amerikaner werden beschnitten. So wird Geburt zu einem Alptraum, werden die ersten Augenblicke mit Schmerz verknüpft, und auch das ausgefeilteste Werkzeug kann den Tod nicht immer verhindern. Es gibt dafür keine Entschuldigung, sei sie religiöser, sexueller, medizinischer oder ästhetischer Art.“

Williams emphatischer Text und das angefügte Material zur Theorie und Praxis der „Enthauptung“ des Mannes zeigen, daß es tatsächlich keinen vernünftigen Grund zu geben scheint, Mutter Natur ausgerechnet an der für ihre eigene Hervorbringung wichtigsten Stelle zu korrigieren. Doch der brutale Schnitt, den die Ägypter erfanden, den Juden, Muslime und andere Völker übernahmen und der in diesem Jahrhundert als hygienische Maßnahme vom amerikanischen Babypapst Dr. Spock in alle Welt posaunt wurde, ist mittlerweile auch in Europa, zumindest in England, in Mode gekommen. Beigetragen dazu hat unter anderem das (mittlerweile klar widerlegte) Gerücht, daß das von den Vorhautdrüsen produzierte Smegma für Krebs sorgen könnte jüngstes Glied einer Kette falscher Verdächtigungen des käseartigen Gleitstoffs, der immer wieder als medizinische Begründung herhalten mußte. „Aber würdest du dir die Augenlider entfernen lassen, nur weil sie Tränen enthalten, oder die Nasenflügel nur wegen dem Rotz darin?“ fragt Williams.

Was hat die barbarische Barbiererei, die Stammesführer wie Abraham als bevölkerungspolitische Maßnahme verordneten, um Zeugungsunfähigkeit durch das (seltene) Zuwachsen der Vorhaut (Phimose) radikal zu verhindern, über die Jahrtausende erhalten, nicht nur als Initiationsritual, sondern als medizinische Maßnahme? Eingebettet in einen mythisch-kulturellen Rahmen mag die Beschneidung in der Pubertät, als künstliches Pendant zur Menstruation, einem brachialen religiösen (Wahn-)Sinn geschuldet sein, aber als massenhafte Verstümmelung von Neugeborenen? Die Phimose kann man längst nichtoperativ, jedenfalls ohne Beschneidung kurieren, der sogenannte Nillenkäse ist als Infektionsherd bedeutungslos, und die landläufige Meinung, daß Beschneidung dem Masturbationsdrang entgegenwirke, gehört eindeutig zu den Ammenmärchen. Faktum hingegen ist, daß der durch Beschneidung schutzlose Penis in seiner Sensibilität fortan deutlich beeinträchtigt ist, was einige Interpretatoren zu der Annahme führte, der Ursprung des blutigen Brauchs sei in der Urzeit des Matriarchats zu suchen: Weil am Liebeswerkzeug desensibilisierte Männer verzögert ejakulieren, hätten die geilen Göttinen die Pimmel ihrer Kerle eben entsprechend abgestumpft. Eine Tortur, die Millionen Frauen und Mütter bis heute gutheißen, nicht ohne in einer merkwürdigen Mischung aus Feminismus und Stalinismus die Klitorisbeschneidung bei kleinen Mädchen als Folter zu verdammen und gleichzeitig gar noch von „sanfter Geburt“ zu faseln. Wie das Trauma der Geburt in den Horror der Beschneidung übergeht, beschreibt Williams am Ende seines Texts: „Wenn du das erste Mal auf der Erde landest, voll ausgerüstet, und ein narkotisierter Blödmann kommt auf dich zu und hackt dir ein Stückchen ab - was denkst du dann? Daß du einer Bande Räuber in die Hände gefallen bist, einer Horde Souvenirjäger? Daß das erst der Anfang weiterer Amputationen ist? Daß die Benutzung dieses Teils deiner Ausrüstung hier als Verbrechen gilt? Daß der Mann in Weiß deine Vorhaut transplantieren will, der selber keine hat, aber wichtiger ist als du? Wird hier ein fremder Gott angebetet, und dies ist ein Opfer für ihn, dem eines Tages der Rest folgen soll. Wollt ihr mir damit sagen, daß das Leben, das auf mich wartet, im Zwickel zwickt? Hassen sie mich? Bin ich ein Eindringling, der ihnen alles durcheinander bringt? Soll dieser kleine Eingriff eine Art Vorbereitung sein auf ein Ritual, bei dem ich umgebracht werde? Wieso haben die beiden, auf deren Einladung ich hier bin, dem zugestimmt? Fühlen sie sonst noch was im Schilde? Der erste Schnitt geht am tiefsten.“

Mathias Bröckers

Werner Pieper (Hrsg.): „Aus den Vorhaut- akten“. 'Grüner Zweig‘ Nr.128. Verlag Grüne Kraft, 98 Seiten, 15 DM (ISBN 3-925817-35-2)