Erstes Europarlament mit linker Mehrheit

■ Wird die rechnerische Mehrheit von Sozialisten, Kommunisten und Grünen auch arbeitsfähig sein?

Eins steht fest: Die britischen Konservativen haben nicht nur in ihrem Land haushoch verloren, sie werden auch den Sessel des Straßburger Parlamentspräsidenten abgeben müssen, denn die Sozialisten sind nach diesen dritten Direktwahlen stärkste Fraktion. Die Grünen haben in den meisten Ländern zugelegt, aber auch die Rechtsextremen von Le Pen bis Schönhuber sind stärker geworden. Entgegen dem europäischen Trend hat die bundesdeutsche Sozialdemokratie nicht zulegen können, und die Grünen blieben bei gut acht Prozent. Wenn die Wahl ein Test für die kommende Bundestagswahl war, dann ist in der BRD die Zeit für gesicherte Mehrheiten vorbei. Ohne Schönhuber haben die Konservativen kaum noch Chancen. Mit den Rechtsradikalen aber dürfen sie nicht wollen.

Der Count-Down läuft: „Noch 1.292 Tage.“ Digital und unübersehbar blinken die Leuchtziffern in der Empfangshalle des Europäischen Parlaments in Brüssel und markieren darunter auch gleich das unaufhaltsam näherrückende Stichdatum: 01.01.1993. Mit ihm, so suggeriert die europhone Propaganda, beginnt eine neue Zeitrechnung. „Europa im Jahr 1“, so leuchtet es verheißungsvoll über der Zeittafel. Bis zu dem magischen Datum soll er Wirklichkeit sein: der grenzenlose Binnenmarkt. Das Jahrhundertprojekt EG-Europas.

Mit seinem Votum hat das Wahlvolk EG-Europas - oder jedenfalls jene mickrige Teilmenge, die sich an die Urnen bequemte - am vergangenen Wochenende mehrheitlich jenen Kräften neue Tickets nach Straßburg ausgestellt, die auf der letzten Etappe zum Supermarkt der Konzerne versprochen haben, der sozialen und ökologischen Dimension mehr Gewicht beizumessen. In Anlehnung an die Wahlkampagne der SPD könnte man sagen: Die Fische und die Bäume haben gesprochen Hough!

Rechnerisch

die Mehrheit

Die Plenarbesatzung der Linken, von den Sozialisten über Kommunisten und Grüne bis zu parteilosen Unabhängigen, verfügt zumindest rechnerisch jetzt über eine knappe absolute Mehrheit der 518 Sitze. Die sozialistische Fraktion baute ihren Status als stärkste Fraktion mit nunmehr 182 Sitzen aus - vor allem wegen des Wahlerfolgs der britischen Labour-Party (46 Mandate). In den anderen Ländern konnten die Schwesterparteien ihre Positionen entweder halten oder verloren nur mäßig. Der scheidende sozialistische Fraktionsvorsitzende Rudi Arndt (SPD) meldete bereits den Anspruch der Sozialisten auf den im Juli neu zu wählenden Parlamentspräsidenten an. Als Favorit gilt der Spanier Enrique Baron, ein Angehöriger der neuen Technokratengeneration.

Die Kommunisten verloren vor allem in Frankreich Stimmen, büßten aber wegen des guten Abschneidens der italienischen Eurokommunisten lediglich sechs ihrer bisher 48 Sitze ein. Vor allem die Grünen legten kräftig zu, dies ist neben dem Anschwellen der Sozialisten das zweite wichtige Ergebnis (siehe Artikel unten), die Regenbogenfraktion, der neben den diversen Grünen auch Regionalisten und dänische EG-Gegner angehören, hat ihre Sitzzahl von 20 auf 39 immerhin fast verdoppelt - und das, obwohl die britischen Grünen mit ihren 15 Prozent am dortigen Mehrheitswahlrecht scheiterten. Der noch amtierende Parlamentspräsident Sir Henry Plump, ein britischer Konservativer, prophezeite denn auch schon auf einer Pressekonferenz am Montag morgen in Brüssel, daß die Umweltpolitik zukünftig wohl einen breiten Raum auf der Tagesordnung des EPs einnehmen wird.

Als drittes Trendsignal wurde in Brüssel der Einzug der bundesdeutschen „Republikaner“ verstanden. Allerdings zeitigt der Einmarsch der sechs Schönhuberianer hier nicht die gleiche Schockwirkung wie der überraschende Einzug Le Pens vor fünf Jahren. Schließlich war nach Berlin und Frankfurt ein entsprechendes Ergebnis für die REPs erwartet worden. Obwohl Schönhuber sich zur Fraktionsfrage noch nicht geäußert hat, wird hier davon ausgegangen, daß die „Republikaner“ zusammen mit den elf Leuten Le Pens und den vier Neofaschisten des italienischen MSI eine Fraktion bilden werden.

Ist die linke Mehrheit

arbeitsfähig?

Ob die rechnerische sich in eine arbeitsfähige Linksmehrheit umsetzen läßt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen ist zu beachten, daß es im EP im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten nicht die klassische Aufteilung zwischen Regierungslager und Opposition gibt. Die Fraktionszusammenhänge sind schon allein deshalb viel lockerer, weil sie Mitglieder verschiedener Parteien und Länder umfassen. Mehrheiten kommen je nach Thema quer durch die Fraktionen zustande. So finden sich etwa italienische Kommunisten, französische Sozialisten und britische Tories problemlos zusammen, wenn es um die Verteidigung ihrer nationalen Kleinwagenindustrien gegen strengere Abgasvorschriften geht. Eine linke Mehrheit wird also nur bei bestimmten Themen zum Tragen kommen. Spätestens beim Atom hört sie auf.

Hinzu kommt, daß Teile der Linken bis zur konstituierenden Sitzung im Juli in Straßburg erst einmal heftig mit sich selbst beschäftigt sind. Die italienischen Eurokommunisten wollen nicht länger mit den Betonköpfen der KPF zusammensitzen und würden am liebsten in die sozialistische Fraktion wechseln. Weil sich der italienische Sozialistenchef Craxi bislang gegen solchen Zuzug sperrt, werden die Italokommunisten möglicherweise vorübergehend eine eigene Fraktion namens „Eurolinke“ aufziehen; eventuell gemeinsam mit Abgeordneten anderer südeuropäischer Kleinparteien.

Den Grünen steht ein Grundsatzstreit um die künftige Farbgebung des Regenbogens bevor: Während die bislang dominierenden bundesdeutschen Grünen wieder mit links -alternativen Abgeordneten aus Italien, den Niederlanden, Spanien und Portugal zusammenarbeiten wollen, drängt Antoine Waechter aus Frankreich auf eine reingrüne Parlamentsgruppe.

Reform der

Brüsseler Institutionen

Erweist sich nach den inner- und interfraktionellen Klärungsprozessen dieses Sommers die linke Mehrheit als zumindest punktuell arbeitsfähig, dann könnte es im Gebälk der EG-Institutionen bald mächtig knirschen. Denn bislang werden die Richtlinien, wie Gesetze im EG-Deutsch heißen, auf Vorschlag der Brüsseler Kommission vom Ministerrat verabschiedet. 200 Jahre nach der Französischen Revolution ein echter Hammer: Zwölf Männer erlassen in geheimer Sitzung die Gesetze für 320.000 EG-EuropäerInnen. Das europäische Parlament glänzt in diesem legislativen Prozeß meist nur durch mehr oder weniger unverbindliche Stellungnahmen. Nur mit seiner absoluten Mehrheit, die allerdings den Konsens von 260 Abgeordneten voraussetzt (und daher bisher in der Regel nur durch das „Elefantenschmusen“ von Sozis und Christis zusammenkam), kann es Richtlinien des Ministerrats blockieren oder Änderungen erzwingen. Eine Blockadepolitik zwischen linker Parlamentsmehrheit und dem überwiegend bürgerlich-konservativ besetzten Rat aber würde über kurz oder lang eine Reform des Institutionengefüges erzwingen. Womöglich eine kleine Chance, im Westflügel des viel zitierten Hauses das ebenso oft zitierte „demokratische Defizit“ zu korrigieren.

Thomas Scheuer (Brüssel)