Erzengel Erzfeind

■ Gorbatschow - Der Iwan mit menschlichem Antlitz

Die Bundesdeutschen sind völlig aus dem Häuschen. Nie wurde ein Staatsgast mit größerer Begeisterung aufgenommen als Michail Gorbatschow. Eine Umfrage des ZDF ergab, daß 90 Prozent aller Bundesbürger dem Kreml-Chef vertrauen (US -Präsident Bush bringt es nur auf 58, Kohl gar nur auf 50 Prozent). Besonders den Bundesbürgerinnen scheint es der Mann mit dem roten Fleck angetan zu haben, 'Bild‘ ermittelte: „Eine unerklärbare Aura und eine nicht-trennende Autorität, die rational nicht erklärbar ist“ (Gertrud Höhler), „fabelhaften Charakter“ (Inge Meysel) sowie „enorme erotische Ausstrahlung“ (Heidi Brühl). Eine so umfassende Begeisterung, wie sie Gorbatschow derzeit auf dem menschlichen wie auf dem politischen Sympathiekonto entgegenschlägt, konnte nicht einmal der Strahlemann und „Berliner“ J.F.Kennedy verbuchen - blühte dem Sowjet -Präsidenten demnächst ein grausiges Attentat wie seinem amerikanischen Vorgänger, er müßte geradewegs und sichtbar strahlend in den Himmel auffahren.

Die Lage ist paradox: 90 Prozent der Bundesdeutschen sind von dem großen Abrüster und Humanisierer Gorbatschow begeistert, wählen aber Parteien, denen der Verbleib in der Nato und die Beibehaltung einer zum Weltkrieg gerüsteten Bundeswehr als Allerheiligstes gilt. Diese Schizophrenie für 100 Milliarden Mark jährlich rüstet man gegen ein Volk, dessen Führer man am liebsten zum Nachbarn hätte - verweist auf die tiefen Prägungen, die die Vergangenheit in den Hirnen hinterlassen hat: die russischen „Untermenschen“ Hitlers sind, wie auch die vergewaltigenden Kommunisten und finsteren „Soffjets“ Adenauers, noch präsent im Untergrund der deutschen Seele. Und Bürokratengesichter, Tschernenko -artig verhärmte Greise oder Augenbrauen a la Breschnew machten es der westlichen Propaganda einfach, bei leichter Erwärmung des kalten Kriegs das Bild des bösen Russen beizubehalten. Doch mit dem Aufstieg Michails und seiner Raissa ist plötzlich alles anders - die Deutschen bejubeln den Iwan mit menschlichem Antlitz. Und stellen - kaum haben sie den Erzfeind zum Erzengel gemacht - gleich unchristliche Forderungen wie den sofortigen Abriß der Mauer. Statt sich zuvorderst auf sich selbst zu besinnen und den Iwan in sich

-die Armeen gegen die Bedrohung aus dem Osten - endgültig abzuschaffen.

Mathias Bröckers