Norman Birnbaum, Deutschlandexperte - Der Anfang vom Ende der Nato?

MONTAGSINTERVIEW von Stefan Schaaf (Washington)

taz: Sie haben 1984 und 1988 den Präsidentschaftskandidaten Jesse Jackson in außenpolitischen Fragen beraten. Welche Position würden Sie ihm heute im Streit um die nuklearen Kurzstreckenraketen nahelegen?

Birnbaum: Ich würde ihm sagen, daß die Deutschen recht haben. Sie haben Angst vor den Nuklearwaffen. Aber das sollten wir auch hier in den USA haben, denn wenn es zu einem großen Krieg kommt, fallen die auch auf unsere Köpfe. Deswegen hätte meine Politik zwei Teile: mit den anderen Nato-Verbündeten über die Entnuklearisierung Europas und mit den Sowjets über einen möglichst weitgehenden Abbau der strategischen Langstreckenwaffen zu reden. Im übrigen würde ich nicht nur Jackson, sondern jeden Präsidentschaftskandidaten darauf hinweisen, daß wir große Summen für unsere Streitkräfte in Europa ausgeben, die besser in Sozialprogramme und wirtschaftliche Maßnahmen hier investiert werden könnten, sofern diese Streitkräfte abgezogen würden.

In der Debatte hier in den USA herrscht ja große Angst vor einer „Entnuklearisierung Europas“. Was sind die Gründe für diese Angst?

Die Pentagonstrategie sieht vor, daß man in einem bewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion die sowjetischen Streitkräfte in Europa vernichtet und die beiden deutschen Staaten und wohl auch Polen als nukleares Schlachtfeld betrachtet. Man hört oft, daß ja dann auch die Viertelmillion US-Soldaten in Europa betroffen wären, aber die sind nicht notwendigerweise organisch mit unserer Nation verbunden. Die Kampfeinheiten bestehen überproportional aus Schwarzen, Hispanics und armen Weißen. Die Nato-Strategen, Ideologen und Experten, die zu Wehrkundetagungen und deutsch -amerikanischen Konferenzen zwischen den USA und Europa hin und her fliegen, dienen meistens nicht, ihre Söhne auch nicht. Die haben zwar viel Lebenserfahrung im Ergattern von Forschungsgeldern und freien Flugtickets, von Direktoren und Staatssekretärsposten, aber kämpfen tut niemand, das machen die anderen: Deutsche, Schwarze und Hispanics.

Zeigt der Streit um die Kurzstreckenwaffen nicht, daß man sich auch bis ins bundesdeutsche politische Establishment über die Konsequenzen eines begrenzten A-Waffeneinsatzes klar geworden ist?

Nehmen wir einen klugen Mann wie Alfred Dregger, der ja Offizier im Zweiten Weltkrieg war und später Bürgermeister von Fulda. Vielleicht ist ihm ein Licht aufgegangen, als er das Kriegsspiel über das Fulda-Gap gesehen hat. Dregger war seit Jahren ein begeisterter Befürworter der deutsch -amerikanischen Allianz, und man muß sich fragen, was diese plötzliche Bekehrung bei ihm und auch anderen Leuten in der CDU ausgelöst hat. Ich glaube, daß es eine Reihe von Faktoren gibt. Einer ist, daß die US-amerikanische Position immer grober, unverschämter und auch klarer zutage tritt, je weniger der Glaube an eine sowjetische Bedrohung aufrechtzuerhalten ist. Wenn Cheney sagt, daß es keine Entnuklearisierung Europas geben kann, dann muß man sich doch fragen, warum will er an diesen Nuklearwaffen festhalten, wenn er über dieses riesige strategische Arsenal verfügt. Zweitens gibt es eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Plötzlich ist der bundesdeutschen Führungselite, so beschränkt einige ihrer Persönlichkeiten auch sein mögen, klar, daß die USA immer mehr der alten Beschreibung der Sowjetunion als militärischer Riese und moralischer, politischer und wirtschaftlicher Zwerg entsprechen. Gerade wegen unserer sinnlosen militärischen Ausgaben kommen wir bald selbst in diese Lage. Je stärker wir uns auf diese Waffen verlassen, desto weniger haben wir politisch und sogar wirtschaftlich zu sagen. Den Deutschen ist dieser Widerspruch immer klarer geworden, außerdem haben sie ein Gefühl von der wichtigen deutschen Rolle im Nachkriegseuropa und im vereinigten Europa. Das ist eine Kräfteverschiebung, die auch bei den Deutschen politische Spuren hinterlassen hat. Drittens sehe ich auf einer langfristigen Ebene, daß die Friedensbewegung in Deutschland, auch wenn man sie nicht mehr auf der Straße sieht, einen großen historischen Erfolg errungen hat. Es gibt in der Bevölkerung der BRD eine Bewußtseinsveränderung, die sich im Unmut über Atomkraftwerke, Ramstein, Tiefflugübungen oder Manöver zeigt. Es gibt ein vages Gefühl, daß im Falle eines nuklearen Konflikts die USA und die Sowjetunion sich womöglich verständigen, aber über 70 Millionen deutsche Leichen hinweg. Die Krise in der Nato geht tief, und sie ist nicht mit Kompromißformeln auf dem Papier beizulegen. Ohne eine Infragestellung der bisherigen strategischen Konzepte ist sie nicht zu lösen. Damit kommen nicht nur die militärischen Planungen des Bündnisses ins Wanken, sondern auch die politischen Voraussetzungen.

Wenn man in den USA Kommentare in der Presse liest, dann gibt es nur einen Grund für den deutschen Aufstand gegen die Amerikaner, das ist ihr vierzig Jahre lang unterdrückter Nationalismus.

Die meisten Leute, die sich eine Meinung erlauben, haben keine übermäßigen Kenntnisse der deutschen oder europäischen Geschichte. In Deutschland hat man sich über Leute wie A.M. Rosenthal aufgeregt, den ehemaligen leitenden Redakteur der 'New York Times‘, der jetzt seine Kolumne schreibt. Er war zwar Auslandskorrespondent, aber im Grunde genommen ist er ein sehr provinzieller Mensch, er ist und bleibt ein begrenzter New Yorker. Das sind Stammtischthesen, sein Deutschlandbild ist von Wochenschauen über das Dritte Reich geprägt. Leider weiß man hier meist fast nichts von der deutschen Geschichte vor oder auch nach dem Faschismus. Aber an diesem Unverständnis ist auch die Elite in der Bundesrepublik schuld, die die Friedensbewegung, die Grünen und zum Teil sogar die SPD so verteufelt hat, daß man hier glaubt, daß eine rot-grüne Koalition das Ende der westlichen Zivilisation bedeuten würde. Es gibt hier nur einen legitimen Nationalismus, das ist unserer. Alles andere ist pathologisch. Was in Europa als Debatte über eine europäische Friedensordnung geführt wird, weckt hier Befürchtungen eines europäischen Gaullismus oder Genscherismus oder daß man aus Europa hinausgedrängt wird. Politik wird mit Vorliebe personalisiert: Genscher wird hier verteufelt, um die Problematik zu vermeiden. Genscher selbst hat gesagt, wir sollten nicht unsere Raketen, sondern unsere Ideen modernisieren.

Wäre die US-amerikanische Gesellschaft eigentlich in der Lage, mit dem Verlust der weltpolitischen Führungsrolle auf technologischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet umzugehen?

Ich glaube, sie ist es derzeit nicht, und das birgt große Gefahren für die Zukunft. Viele Amerikaner empfinden alles, was seit Vietnam passiert ist, als ein schleichendes Versailles: den Machtverlust, den die Niederlage gegen eine kommunistische Dritte-Welt-Bewegung mit sich brachte, die Aufmüpfigkeit von anderen wie Daniel Ortega, der trotz aller Kraftmeierei an der Macht geblieben ist, nun der 1992 bevorstehende Zusammenschluß der Europäer. Wichtig ist jetzt, wie sehr das Bewußtsein, Nummer eins in der Welt zu sein, Bestandteil der amerikanischen Psyche geworden ist, ob es nicht eine Kompensation für Millionen von Amerikanern war, deren persönliche und wirtschaftliche Stellung nicht sehr rosig war. Da gibt es eine Gefahr von chauvinistischen oder sogar faschistischen Reaktionen, die im Moment nicht sehr ersichtlich ist - aber es ist ungewiß, ob sich das im Fall einer Wirtschaftskrise nicht ändert.