Rehabilitierung des Genrebildes

Bemerkungen zu Christa Wolfs neuer Erzählung „Sommerstück“ anläßlich ihres 60. Geburtstages heute am 18. März  ■  Arno Widman

Ein Gemälde zum Anfang. Sätze, die die Hitze eines Jahrhundertsommers nicht beschreiben, sondern erzeugen. Beschrieben werden Himmel und Häuser, Pflanzen und Personen, aber die flirrende Hitze scheint einfach da zu sein, fast unmöglich zu sagen, ab wann man sie spürt. Die ersten Sätze nennen sie nur. Das Wolfsche Pathos wendet sich Gedanken, Reflexionen zu, scheint die Sommerhitze durch erzählerische Kälte zu erzeugen. Doch da ist eine Passage, die vielleicht die Hitze hat aufsteigen lassen im Körper des Lesers: „Ein paar Figuren, hingeworfen auf einen in leuchtenden Farben gehaltenen Grund, darüber ein Himmel, hochgewölbt, tiefblau, wolkenlos, gegen Abend goldgetönt, schließlich nachtschwarz, bestückt mit einer Unzahl von Sternen. Jetzt! schrie alles uns an. Wie ein Hetzruf, der einem ins Blut geht: Jetzt! Jetzt! So schrien die Dinge uns um Erlösung an. Wir sollten so stark wir selbst sein, wie sie sie selbst sein mußten.“

Der erste Satz zitiert Bilder, Gemälde, nicht die Wirklichkeit. Im Sonnenglanz leuchten reflektierende Flächen, der Grund niemals. Er bleicht aus, verliert seine Farbigkeit. Das grelle Sonnenlicht schluckt die Lokalfarben, saugt sie auf. Der vielbesungene Glanz des Sommers ist der der Sonne, die allen Dingen den ihren nimmt. Umso genauer beobachtet, umso sommerlicher, ist im nächsten Satz der Erlösungsschrei der Dinge. Er scheint nur weit hergeholt, ist in Wirklichkeit viel näher an der Beschreibung der äußeren Wirklichkeit des Sommers als die „Der Tor und der Tod“ paraphrasierende Beschreibung des ersten Satzes. Der Erlösungsschrei der Dinge ist vielleicht nicht zu hören. Aber er erinnert daran, wie die Dinge in der Hitze des gleißenden Sommerlichtes, nachdem sie ihre Farben längst abgegeben haben, auch noch ihre Konturen verlieren.

Es fasziniert mich, wie ungenau die Beschreibung geraten ist, wie papieren sie raschelt und wie sinnlich dagegen die Reflexion einem in den Leib fährt. Wie falsch ist doch die Auffassung, die genaue Beschreibung der Fassade erzeuge einen Eindruck. Meist - und gerade in den gelungenen Fällen

-erzeugt sie Langeweile, die Ödnis, das alles schon zu kennen. Ganz abgesehen davon, daß es fast unmöglich ist, aus der vertrackt-verqueren Realität durch deren Beschreibung Eindruck zu machen.

Christa Wolf umgeht das Problem gerne dadurch, daß sie weniger beschreibt als Beschreibungen zitiert. In der Geschichte ist einmal die Rede davon, „daß sich Wortketten bilden, eine Wort-Verfilzung, die sich, anstatt sie nur zu bezeichnen, allmählich an die Stelle der wirklichen Verhältnisse schiebt.“ Natürlich macht Christa Wolf es nicht so naiv, da schiebt sich nicht, sondern da wird geschoben. Sie scheut dabei auch vor dem hohen Ton, vor dem großen Zitat, nicht zurück. Sie traut sich sogar, ganz ohne Ironie zu verfahren. Das muß fast immer daneben gehen.

Ihre Himmelsbeschreibung zwischen Schinkel und Hofmannsthal - sie hätte sie streichen sollen; diese Schiene, die hinführen sollte zum Aufschrei der Dinge, steht dem im Wege, kontrastiert ihn nicht, sondern nimmt ihm die Schärfe, idyllisiert ihn.

Das Abgleiten ins Bedeutungsvoll-Idyllische, ins Genrebildchen, immer eine Gefahr bei Christa Wolf, wie bei jedem Autor, der weiß, daß er wirklich gut nur sein kann, wenn er keine Angst vor dem Kitsch hat - im „Sommerstück“ kommt es immer wieder vor, ist fast die Regel. Ich glaube nicht, daß es ihr aus Versehen passiert.

Ein Abschnitt legt sogar die Vermutung nahe, das ganze „Sommerstück“ sei als eine Rehabilitierung des Genrebildchens geplant. Eine Hochzeit, von der sie selbst sagt, es sei eine Szene, „die aus einem alten Bilderbuch ausgeschnitten schien“.

Natürlich ist die Idylle nicht einfach sie selbst. Die trauten Szenen spielen vor dem unausweichlichen, schon in den ersten Sätzen angekündigten Ende. Der Sommer und seine Idyllen kündeten die Katastrophe an. So hatte sie freilich damals niemand verstanden. Erst die Erzählerin rückt die Geschichte ins rechte Licht. Die Schwalben, die einen „unentzifferbaren Code“ auf den gegen Abend „brandroten Grund“ des Himmels „schrieben“, sind Augurenvögel, deren Botschaft auch die Nachgeborenen allenfalls vermuten können. Aber es scheint auch ganz und gar unwichtig, ob die Flammenschriften der Natur entzifferbar sind oder nicht. An keiner Stelle kommt die Vermutung auf, daß, hätte man den Jahrhundertsommer als Warnzeichen lesen können, die Katastrophe zu verhindern gewesen wäre.

Erzählerisch hilft das, eine Stimmung zu erzeugen. Der ganze Text schwingt schicksalsschwanger. Die windschiefen Bauernkaten mit den kleinen Menschen darin haben keine Chance gegen die übermachtige Moira. Leider ertränkt die Autorin auch alle Differenzierung, die verschiedenen, manchmal pointiert herausgestickten Sprechweisen ihrer Protagonisten, in der Soße dieser alles lähmenden, erstickenden Stimmung.

Das beginnt schon mit den ersten Seiten. Der Kunstgriff, zwei Seiten lang nur von Wetter und Wolken zu sprechen, um dann einen Absatz, in dem vom Blau des Himmels, von Spinnen und Abendstern die Rede war, münden zu lassen in den Satz „Solche Fragen stellte Luisa durchs Telefon“, ist geschickt ausgeführt und das „Telefon“ tut seine Wirkung, entfaltet seine Kraft als Fremdkörper in einer Welt, in der das lange für ewig gehaltene Wetter und die Erzählerin die einzigen Protagonisten zu sein scheinen. Nach und nach, vorsichtig dosiert, treten Zeit und Ort, immer genauer bestimmte Bestandteile des Inventars unserer Welt auf. Nie aber verschwindet die merkwürdige Stimmung von Ewigkeit.

Christa Wolf wandte zuviel Arbeit für die Produktion dieser Atmosphäre auf, als daß sie noch Energie für die widerstreitenden Tendenzen gehabt hätte. Das ist kein politischer Einwand, sondern die Kritik an einer erzählerischen Fehlinvestition. Stimmung allein mag für ein Gedicht, ein Gemälde genügen. In einer Erzählung bewirkt sie nach einer Weile erst verhaltenes, dann immer stärkeres Gähnen. Die Autorin weiß das besser als ich. Sie reflektiert darüber, „daß die Erzählung ihr Material tötet“. Warum führt Christa Wolf der ihren nicht immer wieder neues Material zu? Mag sein, daß sie sich gerade nicht für das Überleben des Materials, sondern für seine Tötung interessiert. Warum weckt sie dann nicht die Lust, der Tötung des Materials beizuwohnen?

Christa Wolf, Sommerstück, Luchterhand Literaturverlag, 219 Seiten, 29,80 DM