Identitätsunterschiede und Regierungskompromiß

■ Bodo Zeuner, Professor für Politische Wissenschaften und Mitglied der Alternativen Liste, zur Bündnispolitik in der AL

In der Diskussion darüber, ob die AL mit der SPD in Berlin ein Tolerierungs- oder ein Koalitionsbündnis eingehen soll, ist ein Argumentationsmuster weit verbreitet: Je mehr grün -alternative Identität sich im Sachprogramm wiederfinde, um so enger könne das Bündnis sein. Ein im wesentlichen sozialdemokratisches Programm mit grünen Einsprengseln könne von der AL nicht als ihr eigenes Programm in voller Regierungsverantwortung mitgetragen werden, also bleibe nur die Tolerierung.

Diese Argumentation besticht durch ihre Einfachheit und sie hat in den Verhandlungen sicherlich gute Dienste getan, weil sie auch den Sozialdemokraten einleuchten mußte. Ich halte sie für zu einfach und meine, daß sie am Kern der Probleme, die für Identität und Selbstverständnis der AL aus dem Bündnis entstehen, vorbeigeht. Was haben denn die Punkte, um die bis zuletzt gerungen wurde, wirklich mit Selbstverständnis und Identität der AL zu tun? Sehen wir genau hin:

-Erhöhung des Gewerbesteuersatzes: Das ist eine genuin sozialdemokratische Forderung, von den Sozialdemokraten, soweit sie als DGB-Vertreter sprechen, immer schon gut begründet erhoben. Ähnliches gilt für die Reform der Berlin -Förderung und die Berufsbildungsabgabe. Gewiß, dahinter stehen schon identitätsträchtigere Unterschiede, nämlich daß die Sozialdemokraten ein unausgesprochenes viertes Essential aufgestellt und eisern durchgehalten haben: Es darf nichts geschehen, was Unternehmer und Investoren verschrecken, geschweige denn real einschränken könnte. Dieser Mangel an Konfliktbereitschaft gegenüber dem Kapital widerspricht der sozialdemokratischen Programmatik und entspricht der sozialdemokratischen Regierungstradition, wann und wo auch immer die SPD in Deutschland regiert oder mitregiert hat. Die sozialdemokratische Linke lebt seit spätestens 1918 von der Hoffnung, daß der Widerspruch zwischen Programm und Regierungshandeln der SPD sich einmal auflösen oder wenigstens verringern könnte, und sie erfährt ihre regelmäßigen Enttäuschungen. Die Berliner Koalitionsverhandlungen haben gezeigt, daß sich an dieser Konstellation auch dann nichts ändert, wenn ein Teil der antikapitalistischen Linken die SPD verläßt und im Rahmen einer neuen Partei gegen sie konkurriert. Aber ist eine antikapitalistische Perspektive wirklich für die AL identitätsstiftend? Das sehen doch viele AL-Strömungen anders, und auch für Sozialisten in der AL gibt es gute Gründe, nicht gerade im subventionsabhängigen Berlin-West antikapitalistische Fanale (wohl aber: Modelle für eine nicht-profitgesteuerte lokale Ökonomie) zu planen.

-Deutsches Historisches Museum: Hier geht es um staatliche Identitätsstiftung durch Geschichtsverarbeitung, aber inhaltlich war die Gegnerschaft von Sozialdemokraten und AL gleich ausgeprägt. Mit den unterschiedlichen Identitäten hat es schon mehr zu tun, wie SPD-Sprecher das Schlucken des Kohl-Geschenks in den Verhandlungen begründeten: Das ergebe doch Beschäftigungswirkungen in der Bauwirtschaft. In der Tat: Dagegen treten Grüne und Alternative seit jeher an: Daß jeder Unfug von AKWs bis zur Rüstung mit dem Totschlagargument „Arbeitsplätze“ gerechtfertigt wird.

-Polizeireduzierung und Verfassungsschutz: Hängt die Identität der AL wirklich an Stellenkürzungsforderungen oder auch an den von der SPD abgeblockten Forderungen nach einer demokratischen Polizistenausbildung, wenn gleichzeitig klar ist, daß mit der SPD mehr Kontrolle über den Verfassungsschutz erreichbar ist und daß sich bei sozialdemokratischen und gewerkschaftlich organisierten Polizisten etwas bewegt?

Die genannten Dissenspunkte aus den Verhandlungen haben sicherlich mit der AL-Identität etwas zu tun, aber sie treffen nicht ihren Kern. Dieser Kern ist in den sachbezogenen Unterschieden zwischen SPD und AL für ein Regierungsprogramm der nächsten vier Jahre unter den restriktiven Bedingungen von Berlin-West gar nicht auszumachen.

Im Kern liegen die Identitätsunterschiede zwischen den beiden Bündnispartnern nämlich, so meine ich, in ihrem Staats- und Funktionsverständnis. Die SPD ist eine Partei, die sich, unabhängig von ihren inhaltlichen Zielen, zuallererst für geordnetes Regieren, für solide staatliche Aufgabenerfüllung, für Konfliktminderung und Krisenmanagement, kurz: für die Reproduktion der Grundlagen der bestehenden Gesellschaft durch Staatshandeln, verantwortlich fühlt. Die Grünen/Alternativen sind eine Partei, die sich als Sprecher der Benachteiligten und Ausgegrenzten im Staatsapparat versteht, ohne sich mit dem Interesse des Staatsapparates an seinem eigenen Funktionieren zu identifizieren. Die Grün/Alternativen sind außerdem eine Partei, die für Visionen einer anderen Gesellschaft steht, auch wenn diese Visionen sich nicht in Regierungsprogramme übersetzen lassen. Es handelt sich also, wenn SPD und AL bei Wahlen gegeneinander oder bei Regierungsbündnissen miteinander antreten, keineswegs um eine Beziehung gleichartiger Kontrahenten oder Konkurrenten. Es geht vielmehr um das Aufeinanderstoßen verschiedener Politikprinzipien und Politikformen. Der Marburger Politikwissenschaftler Michael Greven hat in einer vergleichenden Befragung von Aktiven der SPD und der Grünen festgestellt, daß sich die beiden Gruppen „nicht bei der Bewertung und Einschätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern bei der Erfahrung und Bewertung von politischen Handlungsformen“ deutlich unterscheiden. In der Aufhebung dieses Unterschieds zugunsten einer Übernahme der sozialdemokratischen Politikform durch die AL liegt die eigentliche Gefahr für die AL-Identität, die in einem Regierungsbündnis, egal ob Tolerierung oder Koalition, steckt.

Die AL muß sich nicht einmal bedroht fühlen, weil ihr jetzt die Mitverantwortung für ein Regierungsprogramm zugemutet wird, das in vielen Punkten noch unterhalb der im SPD -Wahlprogramm geäußerten Veränderungsabsichten bleibt. Hierzu kann sie sich selbstbewußt darauf berufen, daß es ein SPD-Wahlprogramm mit diesen Inhalten ohne die neuen sozialen Bewegungen und ohne die AL nicht gegeben hätte: etwa: kommunales Ausländerwahlrecht, gar Frauenförderung, Abwendung von der „autogerechten Stadt“. Die AL muß sich vielmehr davon bedroht fühlen, daß ihr nunmehr solche sozialdemokratischen Politikmuster selber aufgedrängt werden sollen.

Zur sozialdemokratischen Politikreform gehört nicht nur die Selbstbegrenzung der Regierenden auf „Machbarkeit“, sondern zugleich die Pflicht der Regierenden, die eigene soziale Basis in ihren außerparlamentarischen Aktionen an diese Machbarkeitsgrenzen zu binden. Sozialdemokraten sind in Deutschland - und auch anderswo - zum Regieren immer nur in dem Maße zugelassen worden, wie sie eine solche Verpflichtungsfähigkeit gegenüber ihrer eigenen Basis, vor allem den Gewerkschaften, in das Regierungsgeschäft einbringen konnten. Von den Sozialdemokraten geschlossene Regierungskommissionen waren immer kooperative Kompromisse: Sie schlossen ein Stillhalten der Gewerkschaftsbasis mit ein. Regierende Sozialdemokraten, die ein solches Stillhalten nicht mehr garantieren konnten, wurden als Machtteilhaber für die herrschenden Kräfte schnell uninteressant.

Mompers Berliner Sozialdemokratie scheint von der AL eine gleiche Verpflichtungsfähigkeit ihrer Basis auf den Regierungskompromiß zu erwarten. Würde die AL sich darauf einlassen wollen, dann müßte sie sich selbst aufgeben. Sie lebt davon, daß sie, auch wenn das einfache Bild vom „Spielbein“ und „Standbein“ schon längst nicht mehr stimmt, eine Basis in der Gesellschaft und bei den Wählern hat, die sich nicht disziplinieren und kanalisieren lassen will und mit der kooperative Kompromisse nicht möglich sind. Sie kann zwar (und wird auch) durch mehr Staatsknete für institutionalisierte und professionalisierte Projekte bei ihrer Basis reale Befriedigungseffekte erzielen, - aber sie kann die Minderung und Unterhöhlung von sozialem Protest nicht zu ihrem (Mit-)Regierungsziel machen. Sie wird im Gegenteil darauf bestehen müssen, auch als Regierungspartei dem über das gemeinsam mit der SPD Machbare hinausgehenden Protest Unterstützung und Ausdruck zu geben. Es wird Situationen geben müssen, in denen die AL-SenatorInnen die Kabinettsdisziplin befolgen, die AL-Abgeordneten sich vertragstreu an die Koalitionsvereinbarung halten und die AL als Partei zu öffentlichem, natürlich gewaltlosem Protest gegen die mängelverwaltende oder die Möglichkeiten einer Mängelverwaltung noch nicht einmal ausschöpfende Politik des SPD/AL-Senats aufruft.

Das soll eine Spagat-Politik sein? Eine schizophrene Politik, die nicht wahrhaben will, daß man, wie es von Realo -Seite klingt, nicht gleichzeitig Regierungspartei und Systemopposition sein könne? - Nein: Es wäre die einzige Politik, die die Widersprüche der gegenwärtigen sozialen und politischen Umbruchphase akzeptiert und produktiv zu machen versucht.

Dem sozialdemokratischen Bündnispartner müßte eine solche Perspektive der Identitätswahrung verständlich gemacht werden können (auch Sozialdemokraten kennen ja seit mindestens zwei Jahrzehnten den Unwillen ihrer Basis, sich auf Regierungskompromisse zu verpflichten), und die AL-Basis müßte begreifen können, daß das Aushalten und Austragen von Widersprüchen eine Qualität und nicht nur ein Mangel der AL ist.