Von „Leberwursttaktik“ zum Straßenkampf

■ Die Entwicklungsgeschichte polizeistrategischer Konzepte zur „Demonstrationsbewältigung“ und „Aufruhrbekämpfung“ / Die West-Berliner Polizei erweist sich seit über zwanzig Jahren als Vorreiter und Exporteur für besonders ausgefeilte Strategien und Aufrüstungskonzepte / Berlins Noch-Innensenator plant Ausbau der EbLT

MITTWOCH, 22/2/89INLAND HINTERGRUND9 Von T.Meyer und O.Diederichs

Als der Polizeihauptmeister Kurras am 2.Juni 1967 den Anti -Schah-Demonstranten Benno Ohnesorg nahe der Deutschen Oper in West-Berlin erschoß, war dies eine Zäsur in der Demonstrationsgeschichte der BRD. Doch Benno Ohnesorg war nicht das erste Opfer von Polizeischüssen auf einer Demonstration: Bereits 1953, vier Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, wurde der junge Arbeiter Philipp Müller in Stuttgart bei einer Demonstration gegen die Wiederbewaffnung von einem Polizisten erschossen. Anders als nach den Schüssen von 1967 hatte dies jedoch noch keinen nachhaltigen Einfluß auf die polizeitaktischen Maßnahmen und Strategien zur Demonstrationsbekämpfung. Den großen Massendemonstrationen der fünfziger und sechziger Jahre gegen Wiederbewaffnung und Atomtod (Ostermärsche) begegnete die Polizei in aller Regel nach dem sogenannten „Leberwurstprinzip“. Motto: „In die Mitte hineinstechen und nach beiden Enden ausdrücken.“ Mit diesem Einsatzkonzept versuchte auch der damalige Berliner Polizeipräsident Erich Duensing am 2.Juni 1967 den Protest gegen den Besuch des Schahs von Persien vor der Deutschen Oper in West-Berlin aufzulösen.

Konzept „Demo-Meier“

Der Tod des Demonstranten Benno Ohnesorg führte nicht nur unmittelbar zu den Rücktritten des Regierenden Oberbürgermeisters Pastor Heinrich Albertz und seines Innensenators Büsch sowie zu der Entlassung des damaligen Polizeipräsidenten, sondern in der Folge zu der Entwicklung besonderer Polizeieinsatztruppen gegen Demonstrationen. Denn das Konzept „Leberwursttaktik“ erwies sich spätestens im Frühjahr 1968 als untauglich, als bei einer Auseinandersetzung zwischen APO und Polizei am Tegeler Weg in West-Berlin ganze Hundertschaften der Polizei die Flucht ergreifen mußten. Aufgrund der Entlassung des Polizeipräsidenten nach dem 2.Juni 1967 war die West -Berliner Polizei während der Hochzeit der APO jedoch zunächst Führungs- und konzeptionslos, an ihrem bisherigen Vorgehen änderte sich daher erstmal so gut wie nichts. Als dann jedoch am 2.Januar 1969 der Sozialdemokrat Klaus Hübner aus der Düsseldorfer GdP-Zentrale an die Spree geholt wurde und dort sein Amt als neuer Polizeipräsident antrat, nahm die Entwicklung neuer Polizeikonzepte zur Demonstrationsbewältigung einen rasanten Verlauf. Dies war die Geburtsstunde der Sondereinsatzkommandos.

Frisch ins Amt gekommen, verfügte Hübner als erste Reaktion auf die anhaltenden APO-Unruhen noch im Frühjahr 1969 die Aufstellung eines sogenannten „Diskussionskommandos“ (Disk -Kdo) in der West-Berliner Polizei. Dieses Kommando, aufgrund seiner Personalstärke „Gruppe 47“ genannt, sollte per Diskussionseinsätzen unter den Demonstranten brenzlige Situationen entschärfen. Getreu Hübners Motto „Wer diskutiert, wirft keine Steine“ nahm das erste Diskussionskommando im April 1969 seinen Dienst auf. Die Erfolge der „Gruppe 47“ waren anfangs nicht unbeträchtlich. Zu groß war die Verblüffung der DemonstrantInnen, als daß sie sich dem neuen Phänomen des diskutierenden Polizisten hätten entziehen können.

Dieses Modell schien zunächst Schule zu machen, auch Städte im Bundesgebiet richteten „Diskussionskommandos“ ein. In München beispielsweise gelang es einem besonders versierten Beamten, bekannt als „Demo-Meier“, zeitweise sogar solche Beliebtheit zu erreichen, daß er eingehakt in der ersten Demonstrationsreihe mitmarschieren konnte und so nicht unmaßgeblich die Einhaltung der Demo-Route oder die Schrittgeschwindigkeit an gefährdeten Objekten beeinflussen konnte.

Innerbehördlich allerdings kam es bald zu erheblichen wie unerwarteten Schwierigkeiten: Durch ihre spezielle Ausbildung, sprich die Vermittlung der Hintergründe der APO, Schulung entlang des „Kapitals“ und die stärkere Gewichtung psychologisch-soziologischer Inhalte anpolitisiert, quittierten zahlreiche Angehörige der „Gruppe 47“ ihren Polizeidienst. Personell verstärkt und umbenannt in „Einsatzgruppe für die Erprobung und Sonderaufgaben (EgrEuS) wurde das ehemalige Diskussionskommando ab August 1971 dann hauptsächlich für Observationseinsätze des Staatsschutzes sowie für polizeiliche Sonderaufgaben im Bereich der Haschszene und des „Gammlerwesen“ eingesetzt. Damit waren in Berlin die Vorläufer der heutigen Zivilfahndungstrupps entstanden.

Parallel zum „Einsatzmittel Diskussion“ hatte die Berliner Polizeiführung Ende der sechziger Jahre begonnen, spezielle „Aufklärungs- und Festnahmekommandos“ (AuF-Kdo) zu bilden. Hier hat das bis heute bei jedem neuen Aufrüstungsschritt strapazierte Argument von der Notwendigkeit „beweissicherer Festnahmen“ seinen Ursprung. In seiner Gründungsphase bestand das „AuF-Kdo“ aus 250 Beamten der Schutzpolizei und 50 Kripobeamten. Ihre Aufgabe: Observation der Demonstrationsteilnehmer. Polizeipräsident Hübner, mittlerweile europaweit als Spezialist auf seinem Gebiet anerkannt, schrieb dazu 1979 im Zentralorgan der Polizei: „In der Praxis bedeutet dies, daß erkannte Straftäter und Störer nicht im Augenblick ihrer strafbaren Handlung festgenommen werden mußten, was in der Regel zu einer Eskalation der Konfliktsituation führt. Vielmehr wurden erkannte Straftäter so lange observiert, bis sie spätestens vor ihrer Haustür oder lange nach Beendigung der Demonstration festgenommen werden konnten.“

Daß ein solches Konzept dennoch erhebliche Schwächen aufweist, insbesondere mit Zunahme eher spontaner Aktionen, liegt auf der Hand. Selbst der erfahrenste Observant wird in quirligen Situationen häufig die Übersicht verlieren müssen. Allerdings ändert das nichts mehr daran, daß zivil agierende Beamte heute aus Demonstrationen nicht mehr weg zu denken sind. Die Begrenztheit der „AuF-Kdo“ führte zum Einsatz einer weiteren Polizei-Spezies: Innerhalb der Einsatzbereitschaften tauchten - mal uniformiert, mal in zivil - die „Beweis- und Dokumentationstrupps“ (BeDo) auf. Mit Kameras und Video ausgerüstet, filmten sie alles, was ihnen vor die Linse kam. Auch sie sind heute ein fester Bestandteil jedweder Demonstration.

Die Wasserwerfer kommen

Überhaupt veränderte sich zu dieser Zeit, etwa Mitte der siebziger Jahre, das Gesicht polizeilicher Demonstrationseinsätze in Berlin. Die Reiterstaffeln verschwinden fast gänzlich. Statt dessen wird verstärkt mit Wasserwerfern und Absperrgittern, die teilweise an die Fahrzeuge montiert sind, gegen Demonstrationen vorgegangen. Gleichzeitig beginnt eine psychologische Offensive: „Verunsichern der Zielgruppen durch Verbreiten von Gerüchten (ab und zu müssen sie auch mal stimmen); Telefonanrufe zur Irritierung bestimmter Störergruppen“ waren Methoden, die bundesdeutsche Polizeiführer in jenen Tagen praktizierten. Hinzu kommt eine grundlegende Änderung der Mann-Ausstattung der Beamten: Nach und nach weicht die Uniform dem Kampfanzug, der Tschako wird durch den Vollhelm ersetzt und die Gummiknüppel werden langsam länger.

Der nächste Aufrüstungsschub vollzieht sich dann Mitte bis Ende der siebziger Jahre im Bundesgebiet. Der ungehemmte Ausbau der Atomkraftwerke und anderer Großprojekte hat überregionale Bürgerinitiativen hervorgerufen. Proteste wie in Wyhl, Brokdorf oder Grohnde werden nach Regie der Innenminister in zunehmendem Maße nach dem Muster hollywoodscher Monumentalschinken abgewickelt: polizeiliche Masseneinsätze, expandierender Tränengaseinsatz und ein forciert martialischer Einsatz von Technik. Wasserwerfer, Hubschrauber, Sonderfahrzeuge prägen fortan das staatliche Auftreten gegen Bürgerprotest.

Zumindest ideologisch hat auch hierbei die Berliner Polizeiführung die Richtung gewiesen. Die Hübner-Truppe setzte auf das Konzept der massiven Abschreckung: „Es ist zweckmäßig, potentiellen Störern den Eindruck zu vermitteln, die Polizei sei allgegenwärtig und jederzeit in der Lage, mit überzeugender Stärke einzuschreiten. Das Zeigen polizeilicher Kräfte in den Aufstellungsräumen von Aufzügen, wo diese Kräfte auch zugleich solche Teilnehmer an Demonstrationen ins Auge fassen können, die mit gefüllten Taschen, massiven Transparentstangen oder schutzhelmbewehrt erscheinen.“

Mobiler Objektschutz

Im Bundesgebiet wurde das Konzept erstmalig vom damaligen Innenminister von Nordrhein- Westfalen und heutigen FDP -Abgeordneten im Bundestag, Hirsch, angewandt: Anläßlich einer Großdemonstration gegen den Schnellen Brüter in Kalkar am 24.9.77 stellte er die BRD faktisch unter Ausnahmerecht. Polizei und Bundesgrenzschutztruppen besetzten über Nacht fast alle Verkehrsknotenpunkte - der Autobahnverkehr in weiten Teilen der Republik brach in der Folge völlig zusammen. Maschinenpistolenbewehrte Posten kontrollierten jeden Reisenden, der auch nur entfernt nach Demonstrant aussah. Ganze Lkw-Ladungen an vermeintlichen „Waffen“ in Form von Wagenhebern, Benzinkanistern, Motorradhelmen und Zitronen wurden beschlagnahmt. Tausende von Demonstrationswilligen konnten Kalkar nicht erreichen, weil sie, umgeben von einem dichten Polizeikordon, auf Autobahnparkplätzen stundenlang in ihren Bussen festgehalten wurden. Die „wehrhafte Demokratie“ hatte Flagge gezeigt. Zwar gab es eine derart massive „Vorfeldverlagerung“ später dann nicht mehr, aber weiträumige Vorkontrollen sind seither fester Bestandteil polizeilicher Einsatzkonzeptionen.

In Berlin wurde unterdessen bereits wieder an Neuem gewerkelt. Geübt wird unter anderem ein Kordon um solche Demonstrationsgruppierungen, die nach Polizeiansicht „erkennbar den Krawall suchen“: die „einschließende Begleitung“. Während der Anti-Reagan-Demonstration 1987 in Berlin erstmals praktiziert und zeitweise als „mobiler Objektschutz“ umbenannt, wurde diese Praxis dann durch den „Hamburger Kessel“ später auch gerichtsbekannt. Stetig voran trieben die Berliner auch den Einsatz von zivilen Greiftrupps, die sich vorzugsweise aus den eigentlich nur zur Bekämpfung von Gewaltkriminalität gebildeten „Sondereinsatzkommandos“ (SEK) zusammensetzten. Sie agierten hauptsächlich aus der zweiten Linie, also hinter den schildbewehrten Beamten, und konnten so ohne hinderlichen Ballast blitzschnelle Vorstöße tätigen, um Verhaftungen vorzunehmen. Fortan kommen diese „Turnschuhbrigaden“ in der ganzen Republik zum Einsatz. Bei den Auseinandersetzungen an der Frankfurter Startbahn West treten später dann vereinzelt auch schon mal Beamte der Anti-Terroreinheit des Bundesgrenzschutzes (BGS), der GSG9, als Einsatzleiter solcher Greifkommandos auf. Während einiger Demonstrationen gegen die WAA in Wackersdorf stehen zeitweilig sogar ganze Teile der GSG9 in Bereitschaft.

Neben der Weiterentwicklung polizeitaktischer Einsatzmethoden wird die Forschung an einem „polizeitypischen Einsatzmittel“ vehement vorangetrieben. Der „Pepper-fog“, ein Gerät, mit dem sich in kürzester Zeit ganze Straßenzüge mit Tränengas einnebeln lassen, ist wegen seiner unkontrollierbaren Gasstreuung zunächst wieder im Arsenal verschwunden. „Reizstoffwurfkörper“, deren Handhabung und Wirkung lageangepaßter einzusetzen sind, genießen Priorität. Heute trägt jeder Beamte bei geschlossenen Einsätzen eine handliche Sprühportion „Chemical-Mace“ am Gürtel.

Die Blutspur der EbLT

Zur Hochzeit der Berliner Hausbesetzerbewegung Anfang der achtziger Jahre setzt die Polizei alle taktischen und technischen Mittel ein. Berlins Polizeipräsident Hübner gerät in zunehmende Auseinandersetzung mit der Politischen Staatsanwaltschaft, weil diese die Verhandlerlinie des SPD -Senats boykottiert und Haus für Haus räumen läßt. Hübner konvertiert kontinuierlich zu einer „Schlag-drauf-und -Schluß„-Mentalität nach dem Motto: „Die Polizei muß hart am Bürger sein.“

Der nächste entscheidende Anstoß - es ist die Hochzeit der Friedensbewegung - kommt zur Abwechslung einmal nicht aus Berlin. Baden-Württembergs Landespolizeipräsident Alfred Stümper, die „graue Eminenz“ bundesdeutschen Sicherheitswesens, gibt in jenen Tagen die Polizeirichtung an: Es sind Deeskalationsgespräche zu führen. Geführt wird dieser Vorstoß (anfänglich nicht ohne Erfolg) über das damalige BBU-Vorstandsmitglied Jo Leinen, heute saarländischer Umweltminister unter Lafontaine. Sein Ende findet dieser Schmusekurs, als Hamburger Bürgerinitiativen die Geheimgespräche zwischen Polizei und Demonstrationsleitung öffentlich machen.

Erst Mitte der Achtziger treten die Berliner, nun längst unter christdemokratischer Verantwortung, wieder meinungsbildend in Erscheinung. In Berlin ist von Deeskalation nichts zu spüren. Kontinuierlich hat Berlins heimlicher Polizeipräsident, Landespolizeidirektor Kittlaus (SPD), gesponsort vom konservativen Innensenator Kewenig, damit begonnen, die populistische Forderung nach „beweissicheren Festnahmen“ in ein Offensivkonzept zu verwandeln. Am 1.Mai 1987 kommt es nicht zuletzt aufgrund gezielter Provokationen der bei einem Straßenfest in Kreuzberg massiv auftretenden Polizeikräfte zu aufstandsähnlichen Unruhen. Innerhalb weniger Stunden wird die Polizei derart in die Defensive gedrängt, daß sie für mehrere Stunden die Kontrolle über den ganzen Bezirk verlor und sich mühsam wieder vorkämpfen mußte. Aus strammen Beamten der Einsatzbereitschaften wurde unverzüglich eine neue, zunächst etwa 70 Mann starke Sondereinheit aus dem Boden gestampft: Die „Einsatzbereitschaft für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training“, EbLT. Ausgeliehen an das bayerische Innenministerium anläßlich einer Großdemonstration gegen die WAA in Wackersdorf im Oktober 1987, zog diese Einheit „eine Blutspur durch die Bundesrepublik“, wie der Fraktionschef der AL in Berlin, Wieland, vermerkte. Selbst die bayerische Staatsanwaltschaft nahm nach dem Prügeleinsatz der Berliner Schlägertruppe Ermittlungen gegen sie auf. Bis heute ohne Ergebnis.

Den bayerischen Politikern hat die Prügeltruppe jedoch offenbar gewaltig imponiert. Schon kurze Zeit später gab der Hardliner im blau-weißen Innenministerium Gauweiler die Aufstellung eines rund 600 Mann starken „Unterstützungskommandos“ (USK) nach Art der Berliner EbLT bekannt. Wie gut sich diese Truppe an ihrem Vorbild orientiert, war anläßlich der Jahrestagung von IWF und Weltbank im September 1988 in West-Berlin zu sehen. Wo immer sie auch in Erscheinung trat, gab es zwar kaum „beweissichere Festnahmen“, dafür aber erhebliche Verletzungen bei den Demonstranten.

Sollte die Berliner Polizeiführung an der Erweiterung der EbLT-Schlägertruppe in Form der geplanten 500 Mann starken neuen Landeszentraleinheit festhalten, erhielte Berlin damit als vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklung dieser Polizeistrategien praktisch ein stehendes (Polizei-)Heer, ein von allen Befehlsstrukturen unabhängiges „Mobiles Einsatzkommando“ unter der direkten Kontrolle eines rechtslastigen SPD-Polizeioberen.