Winter ade

■ Ein Film von Helke Misselwitz

Die Regisseurin läßt Menschen erzählen, was alle wissen, aber keiner sagt. Sie gebraucht ihre Schwarzweiß -Dokumentationen als Medium der Gegenöffentlichkeit. Ihre Bildsprache ist symbolisch und politisch, poetisch und materialistisch.

Die Misselwitz berührt Tabuzonen behutsam, aber deutlich. Sie wird von der Zensur weder getroffen noch ausgegrenzt. In Zwickau geboren 1947, schließt sie die Schule mit Abitur und Tischlergesellin ab. Eine Ausbildung zur Physiotherapeutin folgt ihren Eltern zuliebe. 1969 beginnt sie zuerst freischaffend, später (1973) festangestellt als Moderatorin und Regieassistentin beim Fernsehen der Deutschen Demokratischen Republik zu arbeiten. Nach abgeschlossenem Film- und Fernsehstudium hält Heiner Carow einen Meisterschülerplatz für sie bereit. Sie schenkt durch Auszeichnungen im sozialistischen Ausland wie dem Goldenen Drachen 1986 in Krakau mit „Tango Traum“ der lange preislosen DDR-Filmlandschaft ein neues Image.

Bei ihrem letzten Film „Winter ade“, Frauen aus der Deutschen Demokratischen Republik, spielt schon der Titel auf Tauwetter an. Sieben Frauen unterschiedlicher Herkunft, Alter und Bildung erzählen ihre Wünsche, Hoffnungen, Lügen und Lebenslügen.

Zwei Punk-Mädchen am Bahndamm. Vor einem Graffiti: Belogen - Betrogen zum Haß erzogen arschlecken wir Alle befragt: „Wo wollt Ihr denn hin?“ antworten: „Nach Hawaii“. Eine würde mal gerne mit dem Vater reden. Sie war neun Jahre alt, als die Eltern sich trennten. Der Vater saß ein, lebt jetzt im Westen. Die Misselwitz thematisiert die Ausreise des Vaters, was lange nicht heißt, daß die Tochter in den Westen will.

Die Bäuerin, die zudem drei Schichten in einer Braunkohle -Fabrik schuftet, ihr behindertes Mädchen großzieht, befragt, ob jemand zärtlich mit ihr sei, antwortet: „Nein, niemand, mit einer behinderten, aggressiven Tochter erkennt mich niemand an. Behinderung ist kein Thema in der leistungsorientierten-fortschrittsgläubigen Welt.“

Reizt die Regisseurin die KulturRichtlinien aus? Sie fühlt sich einer Offenheit verpflichtet und setzt damit neue Maßstäbe zwischen Erlaubt-Gesagt-Gezeigtem und verschwiegen -nichtverbotenen Wirklichkeiten.

Ihr Balance-Akt, mit öffentlichen Auszeichnungen öffentlich Verschwiegenes zu thematisieren, vermag über Mauern und Staatsgrenzen hinweg deutsch-deutsch Unterschiede freizulegen-sichtbar zu machen und kommunizierbar zu halten.

Ihre Bilder sind Grenzüberschreitungen ohne Passierschein. Die Namenlosen fühlen sich ernstgenommen. Die Stimmlosen sprachgewandt, viele, viele sich erkannt. Sie steht in der Tradition Eisenstein, Carow und Prandnoschow.

Beklommenheit auf der Funktionärsebene? Bewunderung, langanhaltender Zwischenapplaus, Gelächter auf den Leipziger DokTagen: Über soviel Mut befragt, antwortet Helke Misselwitz: „Mut ist überall, man muß ihn nur zeigen, er muß nur gezeigt werden in unseren Medien.“ So wär‘ der Winter wirklich ade.

Annette Eckert

Helke Misselwitz: Winter ade, DDR 1988, 110 Min.

13.2., Arsenal 10.00 Uhr; 14.2., Akademie, 22.15 Uhr