Hollands Parlament begnadigt Nazis

NS-Verbrecher Fischer und ausderFünten sollen nach 44 Jahren Haft begnadigt werden / Emotionale Debatte im Parlament und der Öffentlichkeit / Organisationen von Kriegsopfern gegen Beschluß der Regierung  ■  Von Henk Raijer

Berlin (taz) - Das niederländische Parlament hat sich gestern dafür ausgesprochen, die zu lebenslanger Haft verurteilten NS-Verbrecher Franz Fischer (87) und Ferdinand aus der Fünten (79) freizulassen. Nach zweitägiger Debatte lehnten 85 Abgeordnete den von der Partei der Arbeit (PVDA) eingebrachten Antrag ab, dem Begnadigungsbeschluß nicht stattzugeben. Es gab 55 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen. In einem ersten Kommentar sagte ein Regierungssprecher, das Kabinett werde von dieser Zustimmung Gebrauch machen und die beiden vielleicht noch am gleichen Abend abholen lassen. Bei anderer Gelegenheit, 1972, war der Vorschlag der Regierung, die beiden Deutschen, die seit 44 Jahren inhaftiert sind, zu begnadigen, an einem Sturm der Entrüstung gescheitert.

Seit am Dienstag das Kabinett in Den Haag seinen Entschluß bekanntgegeben hatte, die „Zwei von Breda“ freizulassen, hatte kein anderes Thema das politische und öffentliche Leben des Landes beschäftigt. Obwohl formell nicht dazu verpflichtet, hatte die Regierung dem Parlament in dieser delikaten Angelegenheit das Zustimmungsrecht mit verbindlicher Konsequenz eingeräumt.

Nach einer mehrstündigen Anhörung von Nazi-Verfolgten und deren Nachkommen sowie ehemaligen Widerstandkämpfern hatte das Parlament am Donnerstag abend ihre auf zwei Tage angesetzte Debatte über die mögliche Freilassung der „Zwei von Breda“ eröffnet. Zunächst hatte es danach ausgesehen, als ob die Parlamentarier plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen hätten; zu groß war die Welle der Entrüstung, die den Befürwortern in Form von Anrufen, Telegrammen und spontanen Kundgebungen entgegengebracht worden war. Das gestrige Abstimmungsergebnis spiegelte dann schließlich die Zerrissenheit in den Fraktionen deutlich wider: Außer in der regierenden CDA gab es in allen anderen Fraktionen Pro- und Contra-Stimmen. Die rechtsliberale VVD, die Fraktion des Justizministers Korthals Altes, der den Antrag auf Begnadigung eingebracht hatte, fiel ihrem Kollegen in den Rücken. 16 Parlamentarier stimmten gegen, 10 für den Antrag. Korthals Altes selbst Fortsetzung auf Seite 2

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hatte während seiner äußerst emotionalen Rede, während er von der Deportation einiger jüdischer Schulfreunde berichtete, größte Mühe, seine Rede zu Ende zu bringen.

Am Donnerstag abend hatten sich einige hundert Gegner des Beschlusses am Denkmal des Dockarbeiters (Symbol des Februaraufstands gegen die Deportation jüdischer Kollegen) in Amsterdam versammelt. Bürgermeister Ed van Tijn (PVDA) bezeichnete in seiner Rede vor dem Denkmal das Argument des niederländischen Ministerpräsidenten Lubbers, nach dem es einen notwendigen und verständlichen Gegensatz gebe zwischen den Grundsätzen des Rechtsstaates und den Gefühlen von

Tausenden von überlebenden Kriegsopfern bzw. ihren Nachkommen als falsch. Auf dem „Binnenhof“ (Parlamentsgebäude) in Den Haag hatten einige hundert Gegner der Begnadigung, kurz vor Eröffnung der Debatte, Einlaß in den Sitzungssaal gefordert. Die Beratungen der Fraktionschefs mit Vertretern von Kriegsopfer-Organistionen und Widerstandskämpfern einige Stunden vor Eröffnung der Debatte hatten ergeben, daß aus der Fünten und Fischer keineswegs nur „Schreibtischtäter“ gewesen seien. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie aus der Fünten den Abtransport jüdischer Psychiatriepatienten in Apeldoorn organisiert und überwacht hat. Im Dilemma zwischen Rechtsstaatlichkeit und Humanität befanden sich nicht nur die Politiker. Auch in den Reihen der Opfer gingen die Meinungen ausein

ander. Die durch die Nazis schwer verfolgte Gruppe der Roma und Sinti gehörten zu den Befürwortern einer Begnadigung.